Datumszeile

Gino-Irgendwo in Vegas. Der Morgen danach.

Gino wachte in einem Kinderplanschbecken voller Leuchtstäbe auf. Das war keine Metapher. Sein Mund schmeckte nach Reue und Batteriesäure. Seine Augen fühlten sich an, als hätte jemand seine Hornhaut mit Glitzer und Sünde gebatikt; seine Haare waren klebrig. Warum waren sie klebrig? War das Zuckerguss?

Er setzte sich zu schnell auf. „Aua, verdammt—“

Etwas knackte. Ein Leuchtstab explodierte blau über seinem Oberschenkel.

„Okay. Okay. Atmen. Du lebst. Wahrscheinlich.“

Er sah sich im verwüsteten Airbnb um.

Leute schnarchten in den Ecken. Jemand war mit dem Gesicht in eine Pizza gefallen. Die Wände waren mit Neon-Körperfarbe und womöglich... Motivationssprüchen bedeckt?

Ugh, ich muss Enzo finden und wir müssen zurück. Nico, die Glucke, dreht bestimmt schon durch.

Doch Enzo?

Nirgends.

Scheiße.

Gino stand zu schnell auf und musste sich sofort wieder hinsetzen. Der Boden kippte. Oder er.

Okay okay okay okay—

Wo zur Hölle ist Enzo.

Er klopfte seine Taschen ab. Kein Handy. Keine Brieftasche. Keine Würde.

Dann traf es ihn wie ein Lastwagen.

Burning Man.

Das trinkbare Glitzer.

Das Mädchen im Disco-Kugel-Bikini, das „Weltraumglitzer“ anbot. Enzo, der tief, tief unbeeindruckt aussah. Dann... nichts.

Ein völliger Blackout.

„Ohhhhhh mein Gott, ich habe den Mafia-Boss verloren.“

Gino bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. „Enzo wird mich verdammt nochmal umbringen. Oder schlimmer—seine Mutter wird mich umbringen, weil er schon tot ist. Und dann wird sie mich wiederbeleben, nur um mich nochmal zu töten.“

Er stand wieder auf, wankte, trat direkt auf jemandes Hand und humpelte zur Haustür.

„Okay. Okay. Alles ist gut. Er ist wahrscheinlich ins Hotel zurückgegangen. Er ist Enzo. Er ist unverwundbar.“

Er hielt an der Tür inne.

„…Richtig?“

Und dann begann die existenzielle Spirale.

Denn Enzo könnte unverwundbar sein.

Aber Vegas?

Vegas verdammt nochmal nicht.

Enzos Crew 7:27 Uhr

Spannung knisterte im Penthouse des Vero Lux, dem Hochsicherheits-Nervenzentrum von Enzo Marchesis Imperium.

Nico tigerte über den Marmorboden; das Handy fest in der Hand. „Kein Signal. Keine Voicemail. Kein Burner. Kein Zeichen.“

„Er hat sich letzte Nacht nicht gemeldet?“ fragte Lorenzo und löste sich von der eleganten Bar. Seine Krawatte war noch locker, aber sein Tonfall war jetzt ganz geschäftlich.

„Kein Wort,“ sagte Nico. „Nicht mal an Luce.“

Dom blickte von den Sicherheitsmonitoren auf, seine Miene düster. „Und Gino?“

„Schlimmer,“ sagte Nico trocken. „Ginos Handy ist aus. Und seine Standortgeschichte sagt, dass er zuletzt irgendwo außerhalb der verdammten Nevada-Wüste gesehen wurde.“

Es gab einen Moment der betroffenen Stille.

„Sag mir, dass Enzo sich nicht wirklich von Gino zum Burning Man schleppen ließ,“ murmelte Dom.

Nico fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Sie sind vor zwei Tagen losgefahren. Sagten, es sei ein schneller Geschäfts-Trip.“

„Jesus Christus.“ Lorenzo stand auf, die Hände in die Hüften gestemmt. „Und wir haben ihn gehen lassen?“

„Er sagte, es sei off-grid. Keine Details. Keine Sicherheit.“ Nicos Stimme wurde schärfer. „Das hat er noch nie gemacht. Nie. Nicht seit er den Thron bestiegen hat.“

Dom schob sich von den Monitoren zurück und stand auf. „Er hätte sich längst melden sollen.“

Nico nickte. „Und Gino antwortet nicht? Das beunruhigt mich. Wenn es nur Enzo wäre, der einen Streich spielt, hätte Gino längst geprahlt. Ein Selfie mit Feuer-Emoji oder sowas gepostet.“

„Es sei denn, jemand hat sie beide geschnappt.“

Der Raum wurde wieder still.

Lorenzo verschränkte die Arme. „Haben wir die Augen in Vegas darauf angesetzt?“

„Alle,“ bestätigte Nico. „Leise Durchsuchung. Wenn wir bis heute Abend nichts haben...“

„...eskalieren wir,“ schloss Dom düster.

Es gab nichts mehr zu sagen.

Sie vermissten nicht nur ihren Boss.

Sie vermissten das Oberhaupt der Marchesi-Familie. Und wo auch immer Gino war, dieser kleine glitzerüberzogene Bastard würde dafür bezahlen.

LOLA – 10:41 Uhr

Die Glocke über der Tür klingelte, als Lola mit dem Schloss hantierte, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Haare zu einem Dutt zu binden und Lippenbalsam aufzutragen.

Ihre Kundin wartete bereits—die Arme verschränkt, der Fuß tippte, als hätte sie vor einem Kriegsverbrechertribunal gestanden.

„Du bist ungefähr dreißig Minuten zu spät,“ fauchte die Frau und stolzierte herein, als würde ihr der verdammte Laden gehören. „Ich habe eine Ganztagssitzung gebucht.“

Und ich habe eine griechische Statue an mein Bett gefesselt, ehrlich gesagt.

Stattdessen bot sie ihr entschuldigendstes Lächeln an. „Ich weiß. Es tut mir wirklich leid. Es gab, äh... eine Situation.“

Die Frau schnaubte und warf ihren platinblonden Zopf über die Schulter. „Wenn ich nicht morgen abreisen würde, würde ich umbuchen.“

Oh bitte, mach das. Ich würde mich viel lieber um meine versehentliche Geisel kümmern.

Lola deutete auf die desinfizierte Station und zog ihre Handschuhe an. Die Frau ließ sich auf den Stuhl fallen, mit der Anmut einer Cheerleaderin, die das Personal bestraft.

„Wir machen das Rückentattoo, richtig?“ fragte Lola und überprüfte die Notizen. „Wir machen den verzierten Dolch mit Ornamenten?“

„Und Rosen. Drei. Nicht vier. Ich möchte nicht, dass es überladen aussieht.“

Ugh, schon zu viel Gerede, mein Kopf platzt gleich.

Sie bückte sich, um ihre Schablonenmappe zu holen, während Stephanie ununterbrochen darüber sprach, wie unprofessionell es sei, zu spät zu kommen, und dass Lola sich wenigstens hätte besser zurechtmachen können, wenn sie schon spät dran war.

Diese Frau ist der Grund, warum Tätowierer unangemessene Dinge mit ihren Kunden machen, wenn diese nicht aufpassen.

Sie hatte fast vergessen, was sie letzte Nacht getan hatte. Fast.

Doch die Erinnerung war laut und deutlich: Ein Zwei-Meter-Mann voller Wut, der wie ein Geburtstagsbraten in ihrer Wohnung gefesselt war.

Und die Einstellung dieser Frau?

DAS WAR'S, sie bekommt einen Penis genau in dieses untere Blütenblatt. Hoffentlich merkt sie es nie.

Lola richtete die Schablone sorgfältig aus und passte sie der Krümmung der Wirbelsäule ihrer Kundin an. „Sag Bescheid, wenn es sich falsch anfühlt.“

„Nein“, seufzte die Frau. „Es ist in Ordnung. Fang einfach an. Und rede nicht zu viel. Ich muss mich durch den Schmerz meditieren.“

Miststück, ich hoffe, dieses Ornament sieht am Ende aus wie Eier an der Basis dieses Schafts.

Als die Maschine zu summen begann, schweiften ihre Gedanken wieder ab.

Zu den Seidenseilen. Dem Bett. Dem Blick.

Zu der Art, wie er ihren Namen gesagt hatte, als würde er ihn in einem stahlzahnigen Schrank für später ablegen.

Sie hatte ihn gefesselt zurückgelassen, mit einem Wurfkissen unter seinem Kopf und einem Glas Wasser auf dem Nachttisch, das er offensichtlich nicht erreichen konnte.

Es war eine temporäre Lösung für ein sehr permanentes Oh-Scheiße. Warum habe ich ihm nicht den Bierhelm aufgesetzt, damit er wenigstens etwas trinken kann, während ich weg bin? Warum habe ich ihn dort gelassen…?

Denn die Wahrheit war… sie wusste nicht, wer er war.

Ein Verrückter? Ein Betrüger? Eine Art Flüchtling?

Was, wenn er ein Kopfgeldjäger war? Oder ein Schauspieler in einem viralen Streich, der schiefgelaufen ist? Oder ein wirklich engagierter Stripper, dessen Fetischshow völlig aus dem Ruder gelaufen ist? Okay. Denk nach. Er ist definitiv kein Stripper—zu ernst. Kein Polizist—es sei denn, es ist die wirklich zwielichtige Art. Vielleicht ein Söldner? Oder ein privater Sicherheitsheini, der versehentlich betäubt wurde? Oder... oder ein Schwarzmarkt-Krypto-Vollstrecker? Gibt es so etwas? Gott, er hat wahrscheinlich jemanden, der Fingerabdrücke entfernt.

Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die Linien, die sie tätowierte.

Er hat die gleiche Nase und Ohren wie Gino, vielleicht sind sie verwandt? Hat Gino etwas über seinen Cousin gesagt, der im „Familiengeschäft“ arbeitet? War das ein Euphemismus für etwas? Etwas… Casino-ähnliches?

Ihr Magen drehte sich um.

Nein. Auf keinen Fall. Gino kannte sie kaum. Er ließ sich nur gerne tätowieren und flirtete, aber er hatte doch einen Cousin erwähnt, oder? Einen Typen im feinen Anzug, der „die Dinge regelt“.

Nein, daran denke ich jetzt nicht. Ich gerate definitiv nicht in Panik. Ich stelle mir definitiv nicht vor, dass ich den Chef eines Casinos oder Geldwäschers entführt haben könnte.

Sie blinzelte auf das Tattoo und lächelte süß.

„Ups“, flüsterte sie und fügte eine kaum sichtbare phallische Spirale in die untere Rose ein.

Sie justierte die Maschine leicht und führte die Nadel sorgfältig.

Aber warte. Gino hat mal etwas Komisches gesagt...

Eine Erinnerung blitzte auf—eine späte Tattoositzung, Gino aufgedreht von Adrenalin und Energy Drinks, plappernd.

"Es ist eine Familiensache," hatte er gesagt. "Großes, altmodisches italienisches Geschäft. Mein Cousin leitet jetzt den Großteil davon. Der Typ ist intensiv. Scharf wie die Hölle. Reich wie ein Scheich. Besitzt die Hälfte des Strips, einschließlich eines der schicksten Casinos. Aber das hast du nicht von mir, okay?”

Warte. Wartewartewarte.

Cousin. Casino. Mafia-ähnliche Intensität.

Lola blinzelte, die Nadel summte weiter.

Ich habe nicht nur einen heißen Typen entführt. Ich habe den heißen Typen des Chefs entführt.

Sie hielt mitten in der Linie inne.

...Oder den Chef selbst.

Sie schluckte schwer.

Jesus. Wenn das in einen Mafia-Krieg ausartet, werde ich die Idiotin bei Dateline sein, mit einem Fahndungsfoto und einem Soundbite wie „Er sah einfach so symmetrisch aus, ich dachte, er wäre sicher.“ Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür?

Sie tätowierte weiter, mechanisch, ihre Hände bewegten sich automatisch, während ihr Gehirn sich wie ein Party-Streamer im Windkanal entwirrte.

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