Kapitel 2 Der Bund des Erwachens

Valencias Perspektive

Die Trommeln beginnen, ein tiefes Dröhnen, das scheinbar aus der Erde selbst aufsteigt. Die Zeremonie beginnt. Die Priester treten hinter den Säulen hervor und bewegen sich auf eine Weise, die mir eine Gänsehaut beschert, obwohl ich nicht genau sagen kann, warum.

Der Hohepriester trägt Roben in der Farbe von getrocknetem Blut. In seinen Händen hält er ein bronzenes Rauchfass, aus dem Rauch aufsteigt, der nicht existieren sollte – Rauch in der Farbe alten Blutes, dick und unheimlich, der durch die Luft kriecht.

Der Gestank trifft mich selbst durch den Knebel. Verrottendes Fleisch gemischt mit etwas Chemischem, etwas, das das Innere meiner Nasenlöcher brennen lässt und meine Augen zum Tränen bringt.

Das Gesicht des Hohepriesters ist unter seiner Kapuze verborgen, aber ich kann seine Hände sehen – zu blass, mit Fingern, die ein wenig zu lang erscheinen. Als er eine dieser Hände hebt, verstummt die Menge sofort und tritt mehrere Schritte zurück.

Der Rauch aus dem Rauchfass wird dichter, und durch meine Tränen schwöre ich, dass ich Formen darin erkennen kann. Gesichter, die erscheinen und verschwinden. Greifende Hände. Stumme, schreiende Münder. Vielleicht ist es der Mangel an Nahrung und Wasser, der mich halluzinieren lässt.

Der Hohepriester greift in seine Roben und zieht eine Klinge hervor. Er beginnt in einer Sprache zu sprechen, die ich nicht erkenne. Die Trommeln passen ihren Rhythmus seinem Singsang an, und der Rauch aus dem Rauchfass beginnt sich gezielt zu bewegen, uns zu umkreisen.

Zu meiner Linken ist Mira gegen ihre Säule erstarrt, die Augen weit aufgerissen vor Angst hinter ihren Tränen. Die Furcht, von der ich dachte, sie sei in mir gestorben, regt sich schwach in meiner Brust.

Der Hohepriester nähert sich der ersten Säule, an der die Jüngste von uns gefesselt ist – ein Mädchen, das nicht älter als vierzehn sein kann. Ihr ganzer Körper zittert, als er die gebogene Klinge hebt. Der Singsang wird lauter, und der Rauch verdichtet sich um sie, bis sie kaum noch sichtbar ist.

Die Klinge senkt sich.

Der gedämpfte Schrei des Mädchens durchschneidet die Luft, aber es ist nicht der schnelle Tod, den ich erwartet hatte. Der Hohepriester macht flache Schnitte entlang ihrer Arme, lässt das Blut hinunterlaufen, um sich am Fuße der Säule zu sammeln. Der Stein scheint es gierig aufzusaugen, die uralten Symbole beginnen schwach und kränklich zu leuchten.

Er geht zum zweiten Mädchen, dann zum dritten. Jeder Schnitt präzise, rituell, darauf ausgelegt zu bluten, aber nicht zu töten.

Meine Reihe kommt. Sieben Mädchen entfernt. Sechs. Fünf.

Die Angst wird jetzt stärker, durchbricht die Taubheit. Nicht die Angst vor dem Sterben – damit habe ich meinen Frieden gemacht – sondern die Angst, langsam zu sterben, als Brennstoff für etwas Böses.

Vier. Drei. Zwei.

Mira wimmert neben mir, als der Hohepriester sich ihr nähert. Die Klinge hebt sich.

Eins.

Miras Blut ist das Wärmste, was ich seit Tagen gefühlt habe, als ein Teil davon auf meinen nackten Arm spritzt. Sie sackt gegen ihre Fesseln, noch atmend, aber kaum bei Bewusstsein.

Dann wendet er sich mir zu.

Logans Perspektive

Ich stehe inmitten der Menge, mein Gesichtsausdruck sorgfältig neutral, während ich den alten Steinkreis überblicke.

Neben mir verlagert Elton sein Gewicht, unterdrückt kaum das, was eher wie Vorfreude als Trauer aussieht. Sein Beta, Zephyr, steht stramm mit diesem ständigen Grinsen, das er für subtil hält. Luna Quinn tupft sich mit einem seidenen Taschentuch die völlig trockenen Augen ab.

Ein Rudel Narren, die Trauer spielen, denke ich kalt.

"Was für eine Tragödie", verkündet Elton in den Raum, seine Stimme trieft vor falscher Feierlichkeit. "Marcus war ein großartiger Alpha. Von Bären getötet, ausgerechnet. Wer hätte ein solches Schicksal vorhersehen können?"

Jeder mit einem halben Hirn weiß, dass Marcus' Tod nichts mit Bären zu tun hatte. Der Mann hatte mehr Feinde als das Königreich Bäume. Aber hier stehen wir alle und tun so, als würden wir trauern, weil die Politik es verlangt.

Die Trommeln beginnen ihr tiefes, rhythmisches Dröhnen. Die Zeremonie beginnt.

"Barbarische Tradition", murmelt Soren neben mir, obwohl sein Ton eher milde Missbilligung als echten Aufruhr andeutet. Mein älterer Bruder war schon immer besser im diplomatischen Tanz, darin, die richtigen Dinge zu sagen, ohne sie wirklich zu fühlen.

Eltons Blick wandert zu den Opfern, und sein Ausdruck verändert sich zu etwas Gröberem. "Die da ist nicht schlecht", bemerkt er und nickt zu einer der Säulen. "Hübsches Gesicht, nur zu dünn. Hätte vor all dem nützlich sein können."

"Zeig ein bisschen Respekt", sagt Soren leise, aber es klingt mehr wie eine Erinnerung an die gesellschaftliche Etikette.

Ich folge Eltons Blick, mehr aus Neugier darüber, welche Art Frau seine geschmacklose Aufmerksamkeit erregen würde, als aus echtem Interesse. Meine Augen landen auf einem Mädchen, das an einen der mittleren Pfeiler gebunden ist.

Sie unterscheidet sich von den anderen. Während ihre Mitgefangenen sich winden und gegen ihre Fesseln weinen, steht sie völlig still, ihr Gesicht zum grauen Winterhimmel gewandt, mit einem Ausdruck tiefer Ruhe. Selbst abgemagert und schmutzig, hat sie etwas Auffälliges an sich.

Mein Wolf, Knox, bricht in meinem Geist aus. Er wird unruhig, läuft auf und ab und knurrt mit einer Dringlichkeit, die ich noch nie zuvor bei ihm gespürt habe.

„Was ist los mit dir?“ frage ich lautlos.

„Ihr Geruch... er ist anders. Einzigartig.“ Knox' mentale Stimme ist scharf vor Gewissheit. „Ich glaube, sie könnte unsere Gefährtin sein.“

Die Worte treffen mich wie ein körperlicher Schlag. Mein ganzer Körper wird starr. Für einen Moment vergesse ich, wie man atmet.

„Das ist unmöglich“, fauche ich zurück. „Ich kann keinen Wolf in ihr spüren. Sie ist offensichtlich wolflos.“

„Ich weiß, es ergibt keinen Sinn“, gibt Knox zu, seine Verwirrung sickert durch unsere Verbindung. „Aber dies ist das erste Mal, dass ich ein Gefährtenband spüre. Der Geruch lügt nicht, Logan.“

Ich zwinge mich, mich zu konzentrieren. Ein wolfloses Mädchen als meine Gefährtin? Das widerspricht allem, was ich über die Mondgöttin weiß. Wolflosen wird als defekt, gebrochen, minderwertig betrachtet. Wie könnte eine von ihnen für einen Alpha bestimmt sein?

Aber Knox hat mich nie belogen. Hat sich nie in seinen Instinkten geirrt.

Ich betrachte sie nun genauer, suche nach einer Erklärung. Sie ist jung, vielleicht neunzehn oder zwanzig, obwohl der Hunger Jahre in ihre Züge gegraben hat.

Lila Augen.

Die Erkenntnis trifft mich wie ein körperlicher Schlag. Lila Augen – genau die Farbe, die meine Mutter in ihrem Tagebuch beschrieben hat.

Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Wie ist das möglich? Eine Sklavin mit Augen von solch einer seltenen, unmöglichen Farbe. Braunes Haar, verfilzt mit Schlamm und Blut, rahmt diesen markanten Blick ein, macht die violetten Iriden noch auffälliger gegen ihre blasse Haut.

Es gibt etwas zutiefst Beunruhigendes an ihrer Ruhe. Ich habe unzählige Hinrichtungen gesehen, Krieger, die dem Tod mit stoischer Tapferkeit entgegentreten, Gefangene, die in Angst zusammenbrechen. Aber dieses Mädchen – sie ist etwas ganz anderes.

Sie ist nicht ergeben. Sie ist nicht mutig. Sie ist einfach... abwesend. Als hätte sie ihren Körper bereits verlassen und nur eine leere Hülle zurückgelassen, die darauf wartet, dorthin zu gelangen, wo ihr Geist bereits ist.

Es fasziniert mich auf eine Weise, die ich nicht ganz verstehe.

„Knox“, murmele ich innerlich. „Bist du sicher?“

„So sicher wie nie zuvor.“ Sein Knurren grollt durch meine Brust. „Das ist unsere Gefährtin, Logan. Ich würde mein Leben darauf verwetten.“

Der Hohepriester nähert sich dem ersten Pfeiler. Das jüngste Opfer – kaum mehr als ein Kind – beginnt heftig zu zittern. Die gebogene Klinge fängt das wenige Licht auf, das durch die grauen Wolken dringt.

Als er den ersten Schnitt macht, durchdringt der gedämpfte Schrei des Mädchens die Luft. Doch es ist der Stein, der meine Aufmerksamkeit fesselt. Die alten Symbole beginnen zu leuchten und saugen das Blut auf. Der Hohepriester bewegt sich zum zweiten Mädchen. Dann zum dritten.

Meine Augen werden immer wieder zu dem Mädchen hingezogen. Während die anderen sich winden und schluchzen, bleibt sie vollkommen still.

Knox wird unruhiger. Sein Umherlaufen wird hektischer, seine Knurren verwandeln sich in Grollen.

„Wir müssen etwas tun“, fordert er. „Sie gehört uns. Wir können nicht einfach hier stehen und zuschauen—“

„Beherrsche dich“, schnappe ich zurück, aber mein eigener Puls beschleunigt sich. Meine Hände haben sich ohne mein bewusstes Zutun zu Fäusten an den Seiten gekrümmt.

Der Hohepriester wendet sich Valencia zu.

Jeder Muskel in meinem Körper wird starr. Etwas in mir reißt.

Nicht Liebe. Nicht irgendein edles Verlangen, eine Unschuldige zu retten. Das ist mehr primitiv. Sie gehört mir. Das Gefährtenband mag einseitig sein, mag keinen logischen Sinn ergeben, aber es existiert trotzdem. Und ich werde verdammt sein, wenn ich zulasse, dass ein Priester in einer blutroten Robe nimmt, was mir gehört.

„Stoppt diese Zeremonie.“ Meine Stimme schneidet durch die Luft wie eine Klinge.

Die Trommeln stocken. Der Hohepriester erstarrt, die Klinge über Valencias Haut erhoben. Alle Köpfe in der Menge drehen sich zu mir.

Sorens Ausdruck ist sorgfältig neutral, aber ich kann die Frage in seinen Augen sehen: Was zur Hölle tust du?

Meine Hand bewegt sich zu meinem Schwert, während ich zum Altar gehe.

„Logan?“ Sorens Stimme ist leise, fragend. „Was—“

BOOM!

Eine gewaltige Explosion zerriss die Nacht.

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