DREI. DER KALTE PROFESSOR

Etwa zehn Minuten später kam Cammila im Krankenhaus an. Sarah hatte recht gehabt, mit dem Auto war es schneller als mit dem Bus. Das verrückte Mädchen war wie von Sinnen durch die belebten Straßen gerast, bis sie es geschafft hatte, eine zwanzigminütige Fahrt auf nur zehn Minuten zu verkürzen.

Verwirrt suchte Cammila nach ihrer Stiefmutter. Schließlich entdeckte sie ihr Gesicht in der Menge, die sich in der Krankenhauslobby drängte.

„Mama, wie geht es Avery?“

Cammila schnappte nach Luft. Ihr Herz schlug rasend schnell, als sie den undurchdringlichen Gesichtsausdruck ihrer Stiefmutter sah.

„Ihr Zustand ist kritisch. Sie liegt im Koma.“

„Oh, mein Gott. Wie ist das passiert?“ Cammila schlug die Hand vor den Mund. Am liebsten hätte sie geschrien, um ihrer Trauer über das, was Avery zugestoßen war, Luft zu machen.

Ihre einzige Schwester hatte einen Unfall gehabt und lag nun im Koma. Sie erinnerte sich, wie sie beim Frühstück noch am Esstisch gescherzt und über lustige Dinge geredet hatten. Avery war ihre leibliche ältere Schwester, ihr einziger Halt, seit ihr Vater gestorben war. Avery hatte sie immer vor ihrer Stiefmutter beschützt, die manchmal grausam sein konnte. Avery war sogar dafür verantwortlich, die vom Vater hinterlassene Firma zu leiten, die kurz vor dem Bankrott stand. Sie hatte große Schwierigkeiten gehabt, Investoren zu finden. Ohne neue Geldgeber war ihre Firma nicht zu retten. Und Avery hatte gerade einen großen Deal mit einem reichen Mann unterzeichnet, um ihre Firma vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

„Du brauchst nicht zu weinen. Es hat keinen Sinn, in einer Zeit wie dieser Tränen zu verschwenden.“

„Was ist denn eigentlich mit ihr passiert?“

„Woher soll ich das wissen? Die Polizei hat mir nur gesagt, dass Avery einen Unfall hatte. Wahrscheinlich war sie unvorsichtig und ist gefahren, ohne auf den Verkehr zu achten.“

„Ich will sie sehen. Wo ist ihr Zimmer?“

Bevor Cammila zur Rezeption eilen konnte, packte Yvonne sie grob am Arm und zerrte sie in eine ruhigere Ecke des Krankenhauses.

„Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns nur um Avery zu sorgen.“

„Aber sie liegt im Koma. Du hast sie die ganze Zeit erpresst, damit sie Tag und Nacht für diese Firma schuftet, die fast zusammenbricht.“

„Das ist ihre Pflicht als älteste Tochter deines Vaters. Du und deine Schwester müsst die Firma um jeden Preis retten.“

Cammila wandte den Blick ab. Sie war traurig über ihre und Averys Lage, die seit dem Tod ihres Vaters alles andere als rosig war. Yvonne hatte das gesamte Geld ihres Vaters für ihr Vergnügen ausgegeben. Doch damit nicht genug. Yvonne hatte auch hohe Schulden gemacht und ihre Firma als Sicherheit bei der Bank hinterlegt.

„Der Mann, der in die Firma deines Vaters investieren wird, hat eine Vereinbarung mit Avery getroffen.“

„Wir können ihm sagen, dass Avery krank ist und die Vereinbarung nicht einhalten kann.“

„So einfach ist das nicht. Er hat bereits fünfzig Prozent der Gesamtsumme gezahlt, die wir brauchen, um unsere Schulden bei der Bank zu begleichen. Wir können keinen Rückzieher machen.“

„Aber was sollen wir denn tun?“, schrie Cammila Yvonne an und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien.

„Lass mich los. Lass mich zu Avery.“

„Du gehst nirgendwohin, bevor das hier nicht geklärt ist“, funkelte Yvonne sie an und verstärkte ihren Griff.

„Wir werden den Mann um etwas Zeit bitten, bis Avery aufwacht. Das ist die einzige Lösung. Und jetzt lass mich zu Avery.“

„Du weißt wohl nicht, was deine Schwester da unterschrieben hat, was?“, schnaubte Yvonne sarkastisch.

„Avery hat mir nie die Details erzählt. Sie hat nur gesagt, sie hätte sich um alles gekümmert.“

„Du Naivchen. Avery hat eine Vereinbarung unterzeichnet, diesen Mann zu heiraten.“

Cammila starrte sie mit offenem Mund an. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen.

„Du hast Avery an diesen Kerl verkauft. Du hast sie doch sicher dazu gezwungen, oder?“

„Pst … Nicht so laut. Wir sind im Krankenhaus.“

„Das ist mir egal. Aber du bist wirklich grausam. Du hast Averys Leben verkauft, um deine Schulden zu bezahlen. Wenn mein Vater dich nicht geheiratet hätte, ginge es uns gut. Unserer Firma würde es gutgehen.“

Yvonne lachte schrill. Sie sah Cammila an, als wäre sie eine Kakerlake, die sie jeden Moment zertreten würde.

„Tatsache ist aber, dass dein verstorbener Vater mich bevorzugt hat. Dein verstorbener Vater hat mir sogar die Konten seiner Firma anvertraut. Huh, dass du und Avery bisher ein anständiges Leben führen konntet, verdankt ihr nur meiner Gnade. Ich kann euch jederzeit aus dem Haus werfen. Alle Hausurkunden und Vermögenswerte deines Vaters wurden auf meinen Namen überschrieben.“

„Auf keinen Fall. Du musst meinem Vater irgendetwas angetan haben. Du hast ihn manipuliert. Mein Vater hätte sein Vermögen unmöglich dir anvertrauen können, anstatt seinen Kindern.“

„Nun, so steht es in seinem Testament. Du kannst es selbst bei dem Anwalt deines Vaters überprüfen. Ich bin sicher, Winston wird es dir gerne zeigen.“

Cammilas Kehle schnürte sich zu. Sie hatte plötzlich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Avery hatte ihr nie davon erzählt. Aber als sie sah, wie gehorsam Avery die ganze Zeit über alle Befehle von Yvonne befolgt hatte, erklärte das Cammila alles – Avery hatte die ganze Zeit über Bescheid gewusst. Ihre Schwester hatte sie beide beschützt, damit sie in einem Haus voller schöner Erinnerungen an ihren Vater und ihre Mutter ein anständiges Leben führen konnten.

„Warum schweigst du so? Schockiert, was?“

„Du bist eine Diebin. Du hast es uns weggenommen.“

„Du brauchst nicht wütend auf mich zu sein. Du wirst mich brauchen, um die Krankenhausbehandlung deiner Schwester zu bezahlen.“

Bei diesem Gedanken stockte Cammila der Atem. Ihr wurde gerade bewusst, dass Avery eine Menge Geld für ihre Behandlungskosten benötigen würde.

„Im Moment sind unsere Barmittel knapp. Ich kann kein Geld für Averys Behandlungskosten verschwenden. Der Arzt sagte, dass Avery ohne die lebenserhaltenden Geräte, die an ihrem ganzen Körper angeschlossen sind, nicht lange überleben wird.“

„Bitte, tu das nicht. Lass nicht zu, dass die Ärzte ihre lebenserhaltenden Maßnahmen abschalten.“

„Na ja, Avery kann in diesem Krankenhaus weiterbehandelt werden, solange du das Geld für die Behandlungskosten aufbringen kannst.“

„Ich … ich werde mir einen Job suchen. Wie viel kostet Averys Behandlung im Moment?“

„Zehntausend Dollar. Für eine Woche.“

Cammilas Beine wurden schwach, als sie den Betrag hörte, den Avery brauchte. Ihre Ersparnisse reichten nicht einmal annähernd an zehntausend Dollar heran. Um zehntausend Dollar an einem Tag zu verdienen, brauchte man mehr als nur einen Job als Kellnerin. Gleichzeitig konnte sie sich vor ihrem Abschluss nicht bei einem renommierten Unternehmen bewerben.

„Und? Schaffst du es, zehntausend Dollar an einem Tag aufzutreiben?“

„Ich werde es versuchen.“

„Tss, du Dummkopf. Das schaffst du nicht. Nicht einmal Avery selbst könnte zehntausend Dollar an einem Tag auftreiben. Die einzige Möglichkeit, wie du die Behandlung deiner Schwester bezahlen kannst, ist, diesen reichen Mann zu heiraten.“

„W-was meinst du damit?“, fragte Cammila schockiert.

„Du musst Avery ersetzen und diesen Mann morgen früh heiraten. Um neun Uhr im Rathaus.“

-00-

Shane stand vor dem Fenster seines Büros und presste sich mit einer Hand das Telefon ans Ohr. Während er ungeduldig mit der Zunge schnalzte, wartete er darauf, dass jemand den Anruf entgegennahm.

„Ben, bist du es leid, für mich zu arbeiten? Du hast verdammt lange gebraucht, um meinen Anruf entgegenzunehmen, was?“

„E-es tut mir leid. Herr Jeff war gerade zu Besuch.“

„Großvater? Was macht er im Büro?“ Shanes Lippen wurden schmal bei dem Gedanken an das Gesicht seines grausamen Großvaters. Es war dieser alte Mann, der ihn in einem widerwärtigen, diktatorischen Stil erzogen hatte. Er hatte es gehasst, ein kleiner Soldat für seinen Großvater zu sein.

„Wegen der Übertragung seines Vermögens an Sie. Herr Jeff wird es rückgängig machen, wenn …“

„Sag ihm, ich werde seine lächerliche Forderung sofort erfüllen. Morgen Abend werde ich ihm meine Frau vorstellen.“

„Sir, sind Sie sicher? Herr Jeff wird es merken, wenn Sie ihn dieses Mal wieder austricksen.“

„Ich werde ihn dieses Mal nicht austricksen“, knurrte Shane verärgert.

Er trat vom Fenster zurück und kehrte auf seinen Thron zurück.

„Ich werde morgen um neun Uhr morgens im Rathaus heiraten. Sag das meinem Großvater. Er ist herzlich eingeladen, dabei zu sein, wenn er wirklich die Hochzeit seines Enkels miterleben will. Wenn nicht, macht es mir überhaupt nichts aus. Klar ist nur, dass ich das Erbe meines Großvaters nicht in die Hände seines unehelichen Kindes fallen lassen werde.“

„Okay, Sir. Ich werde es Herrn Jeff ausrichten.“

„Organisiere für morgen ein Abendessen für drei Personen, im Lieblingsrestaurant meines Großvaters. Bestell auch seine Lieblingsgerichte.“

„Verstanden, Sir.“

„Gut. Mach alles richtig, Ben. Ich will, dass Großvater von all den Dingen, die ich morgen Abend für ihn vorbereitet habe, wirklich beeindruckt ist.“

Shane beendete das Gespräch und legte sein Handy auf den Tisch. Er grinste, als er sich die Reaktion seines Großvaters vorstellte, wenn er morgen Abend seine Frau treffen würde. Er war sich sicher, dass sein Großvater keine Makel mehr finden würde, denn morgen würde er eine besondere Frau heiraten.

„Du wirst meine Marionette sein, Avery.“

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