VIER. DER KALTE PROFESSOR

„Ähm … Sarah.“

„Hey, Cammi. Wo bist du? Der Kurs bei Mr. Todd fängt gleich an. Den willst du doch nicht verpassen, oder? Er ist dein Lieblingsdozent.“

„Tatsächlich kann ich heute nicht kommen. Sag ihm bitte, dass ich etwas Wichtiges zu erledigen habe.“

„Warum? Hat es mit Averys Zustand zu tun? Wie geht es ihr denn jetzt?“

„Schlecht. Avery liegt im Koma und wird nur noch von den lebenserhaltenden Geräten am Leben gehalten. Überall an ihrem Körper stecken Infusionsschläuche und Nadeln. Ihr Zustand ist sehr schlecht.“

„Oh, Gott. Möge sie schnell wieder gesund werden. Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst. Ich komme dann sofort und helfe dir.“

„Danke. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Bis morgen.“

Cammila umklammerte ihr Handy fest, nachdem das Gespräch mit Sarah beendet war. Sie stand vor dem Rathaus, in einem schlichten Hochzeitskleid und mit einem Strauß billiger Blumen in der Hand. Yvonne telefonierte mit jemandem und hatte sich ein paar Schritte von ihr entfernt.

Gott sei Dank, dachte Cammila bitter. Sie brauchte Raum zum Atmen und Nachdenken. Ihre Brust zog sich zusammen bei dem Gedanken an all die Dinge, die in weniger als vierundzwanzig Stunden in ihrem Leben passiert waren.

Plötzlich schossen ihr die Ereignisse von gestern wieder durch den Kopf. Durch Sarahs Neugier war sie in Schwierigkeiten geraten, dann hatte sie es mit dem kalten, gut aussehenden Professor in seinem Zimmer zu tun bekommen, und weniger als eine Stunde später hatte sich ihr Status von einer alleinstehenden Studentin in den einer Studentin geändert, die im Begriff war, einen Fremden zu heiraten.

Ja, auch wenn sie noch nicht offiziell mit diesem seltsamen Fremden verheiratet war, fühlte es sich für Cammila so an, als hätte sie ihn bereits geheiratet, genau in dem Moment, als sie die Nachricht von Averys Unfall erhalten hatte. Cammila konnte ihre Schwester unmöglich einfach sterben lassen. Sie würde alles tun, damit Avery wieder gesund wurde und zu ihr zurückkehrte, um gemeinsam mit ihr der Grausamkeit der Welt zu trotzen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie an Avery dachte, wie sie schwach im Krankenhaus lag. Ihr Arm war gebrochen, ihr Gesicht hatte mehrere Kratzer von zerbrochenem Fensterglas und an ihrem ganzen Körper waren Schläuche an lebenserhaltende Geräte angeschlossen. Sie hatte ihre Schwester noch nie zuvor so schwach gesehen. Jahrelang war Avery eine starke große Schwester für sie gewesen. Selbst als ihr Vater beschloss, seine Freundin zu heiraten, und sie damit nicht einverstanden war, hatte Avery ihr sanft Verständnis entgegengebracht und sie dazu gebracht, ihrem Vater den Segen zu geben. Das war etwas, das sie jetzt bereute. Ihr Leben hatte sich wegen ihrer Stiefmutter in eine Hölle verwandelt.

„Worauf habe ich mich da nur eingelassen?“, fragte sie bitter in die heiße Juliluft, die auf ihrer Haut brannte. Tränen tropften auf den heißen Asphalt unter ihren Füßen und verdampften sofort.

„Cammila, benimm dich wie ein braves Mädchen. Dein zukünftiger Ehemann und seine Familie sind da.“

Yvonne packte sie plötzlich grob am Ellbogen. Cammila kniff ihre leicht geblendeten Augen zusammen, um den metallicblauen Sportwagen zu betrachten, der gerade vor dem Rathaus gehalten hatte. Dahinter hielt eine Limousine, und ein Chauffeur stieg aus, um seinem Chef die Tür zu öffnen.

Cammilas Herz hämmerte wie wild. Seit letzter Nacht hatte sie sich hunderte Male gefragt, wie ihr Ehemann wohl aussah, wie alt er war und ob er ein junger oder ein alter Mann war.

Ein alter Mann mit einem vergoldeten Gehstock stieg aus der Limousine. Ihr stockte der Atem bei dem Gedanken, dass sie einen alten Mann heiraten sollte. Der Drang, von diesem Ort zu fliehen, überkam sie. Aber ihre Stiefmutter hielt ihren Ellbogen fest umklammert. Cammila geriet in echte Panik, als der alte Mann und sein Assistent auf sie zukamen. Sie zog ihren Schleier enger, um ihr Gesicht vor ihrem zukünftigen Ehemann zu verbergen. Das Geräusch seines Gehstocks, der auf den Asphalt schlug, klang in Cammilas Ohren wie eine Totenglocke.

„Sind Sie Averys Eltern?“

„Ja, ich bin ihre Stiefmutter. Guten Morgen, Mr. Jefferson.“

„Ist Ihre Tochter bereit?“

„Natürlich. Sie wird eine gute Ehefrau sein und Sie nicht enttäuschen.“

Cammila biss sich hinter ihrem Schleier fest auf die Lippe. Sie wagte nicht, aufzusehen, um ihren zukünftigen Ehemann anzusehen. Sie hatte Angst. Sie hoffte, ein Wunder würde geschehen und sie retten.

„Ich möchte ihr Gesicht sehen. Heben Sie den Schleier.“

„Sicher, Sie können ihr Gesicht sehen.“

Cammila ballte die Fäuste, als Yvonne ihre Hand hob, um ihren Schleier zu lüften. Sie konnte dem Mann nicht ins Gesicht sehen. Sie fürchtete, sie würde weglaufen, in der Sekunde, in der Yvonne ihr Gesicht ihrem zukünftigen Ehemann zeigte.

„Opa, lass sie in Ruhe. Ich werde nicht zulassen, dass du meine zukünftige Frau störst.“

Eine Stimme hielt Yvones Hand davon ab, Cammilas Schleier zu lüften. Cammila atmete leise erleichtert auf und wich zwei Schritte von ihrer Stiefmutter zurück.

„Ich will doch nur das Gesicht deiner zukünftigen Frau sehen.“

„Das kannst du später. Wir sollten jetzt besser reingehen und mit dem Eheversprechen beginnen.“

Cammila spürte, wie sich die Leute von ihr und ihrer Stiefmutter entfernten. Sie stand immer noch steif da, wo sie war, und zögerte, das Rathaus zu betreten. Sie schien etwas missverstanden zu haben. Sie würde nicht diesen alten Mann heiraten, sondern seinen Enkel.

„Hey, was machst du da? Geh schnell ins Rathaus.“

„Wer ist der Mann, den ich heiraten werde?“

„Hast du es vorhin nicht selbst gesehen?“

„Wer ist dieser Mann? Ich habe sein Gesicht nicht deutlich gesehen.“

„Tss, sein Name ist Shane Alexander Coffey. Er ist der Enkel von Jefferson Alexander Coffey, einem prominenten Unternehmer aus Massachusetts.“

„Wa-was? Shane Coffey? Ist er ein …“

„Stell mir nicht zu viele Fragen. Wir dürfen sie nicht warten lassen.“

Yvone packte Cammilas Ellbogen grob und zerrte sie ein Stück in Richtung Rathaus.

„Geh anmutig. Alle Augen sind jetzt auf dich gerichtet.“

Cammila hörte die Worte ihrer Stiefmutter kaum. Ihr Verstand war zu sehr damit beschäftigt, sich Shane Coffey und den Mann vorzustellen, der sie gestern beinahe bestraft hätte. Cammila versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass es da draußen viele Männer namens Shane gab. Aber Shane A. Coffey? Auf keinen Fall, dachte Cammila bitter. Es gab nur einen Mann namens Shane A. Coffey in Boston. Und das war ihr Professor.

Jeder Schritt, den sie tat, würde sie in ein schreckliches Chaos führen.

Ich werde Shane Coffey heiraten? Was ist das für ein Wahnsinn?

Shane wartete ungeduldig am Altar auf seine Braut. Er fand, dass diese Frau ein wenig anders war. Die Frau, die in seinem Büro die Vereinbarung unterzeichnet hatte, wirkte so ruhig und selbstbewusst, während die Frau, die gerade auf ihn zukam, so zögerlich und verängstigt aussah. Er konnte sehen, wie die Schultern der Frau zitterten, während ihre Stiefmutter sie zum Altar führte. Und die Frau verbarg ihr Gesicht hinter einem Schleier, der ihr bis zur Brust reichte.

„Ich überlasse Ihnen meine Stieftochter. Bitte passen Sie gut auf sie auf.“

„Keine Sorge. Ihre Tochter ist in guten Händen.“

Cammilas Handfläche war eiskalt, als Shanes warme Hand sie ergriff. Sie warf Shane einen kurzen Blick zu und sah, wie er die Stirn runzelte. Shane führte sie vor den Priester, der mit dem heiligen Ehebuch in der Hand bereitstand.

„Entspann dich, Avery. Wir haben eine Abmachung.“

Cammila nickte steif. Sie erschauerte, als sie Shanes heißen Atem in ihrem Nacken spürte.

„Lassen Sie uns einfach mit der Trauung beginnen.“

Während der Trauung, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, schloss Cammila einfach die Augen und stellte ihre Ohren auf taub. Sie hörte nicht wirklich jedes Wort, das von den Lippen des Priesters kam, denn das Geräusch ihres Herzschlags klang lauter in ihren Ohren. Cammila war nur dankbar, dass sie es schaffte, ihren Teil fließend zu sagen, ohne den geringsten Fehler zu machen. Obwohl sie beinahe ihren eigenen Namen falsch ausgesprochen hätte. Averys Gesicht war alles, was ihre Gedanken beschäftigte. Sie war entschlossen, Avery zu retten, und sie durfte die Hochzeit nicht ruinieren.

„Ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen!“

Das Rascheln von Sakkos, als Shane näher kam, ließ Cammila panisch die Luft anhalten. Shanes Hand bewegte sich zu dem Schleier, der ihr Gesicht so lange bedeckt hatte. Sie zählte leise bis drei, bevor der Schleier hinter ihren Kopf geschoben wurde und Shane ihr Kinn anhob, damit sie sein Gesicht ansah. Das Erste, was sie sah, war Shanes gut aussehendes Gesicht mit klaren blauen Augen, die sie kalt anblickten. Aus dieser Nähe konnte Cammila die schwache Überraschung in Shanes Gesicht erkennen, die von seiner Kälte überdeckt wurde.

Shane weiß, dass ich nicht Avery bin. Shane hat mich erkannt! Gott, was soll ich tun?, schrie Cammila panisch in ihrem Herzen und wartete darauf, was als Nächstes passieren würde. Sie hatte sich darauf vorbereitet, falls Shane sie eine Betrügerin nennen und sie auf der Stelle aus dem Rathaus werfen würde.

Aber was als Nächstes geschah, überraschte sie wirklich. Anstatt sie von diesem Ort zu verjagen, packte Shane sie im Nacken und küsste sie sanft auf die Lippen.

Meine Güte! Ich habe meinen Professor geküsst

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