Kapitel 3

Nixxon war enttäuscht, als er auf immer mehr Meermänner traf, während er versuchte, den Schlossmauern zu entkommen.

Er wich ihnen aus und versteckte sich hinter riesigen Felsen und Häusern, um unentdeckt zu bleiben. Wenn man ihn entdeckte, würde die Nachricht sofort seinen Vater erreichen.

Gerade schwamm er hinter einem großen Haus, als ihm plötzlich klar wurde, dass es das Gemeinschaftshaus des Königreichs war, in dem sie ihre Versammlungen abhielten. Und daneben, nicht weit entfernt, lebte die Hexe des Königreichs, Neireda.

Sofort kam ihm eine Idee: Anstatt sich wie ein Dieb zu verstecken, würde er zu ihr gehen und um einen Zauber, einen Trank oder irgendetwas bitten, das ihn unsichtbar machen würde, bis er die Grenze des Königreichs verlassen hatte.

Leise klopfte Nixxon an die weiße Muscheltür, die mit alten Runen verziert war, die den Wellen Geheimnisse zuzuflüstern schienen. Das sanfte Klopfen hallte durch das stille Wasser, eine leise Bitte an die Bewohnerin im Inneren.

Als er erneut klopfte, senkte er sein Gesicht, um sich vor möglichen Passanten zu verbergen. Seine Augen blieben jedoch auf die Tür gerichtet, erfüllt von einer Mischung aus Hoffnung und Furcht.

Er hatte Glück; niemand besuchte Neireda jemals, außer am „Wunschtag“. Und heute war nicht der „Wunschtag“, aber für ihn würde es einer sein.

Dies war das einzige Mal, dass er die Entscheidung seines Vaters im Königreich zu schätzen wusste; heute würde er sich dafür entscheiden, mit seinem einen Wunsch zu verschwinden.

Eine angespannte Stille folgte, bevor die Tür knarrend aufging und einen schwach erleuchteten Raum freigab, der von biolumineszierenden Korallen schimmerte. Der Duft von altem Pergament und zerstoßenem Seetang erfüllte den Raum.

Aus den Schatten trat Neireda hervor, die berüchtigte Meerhexe. Ihre weißen, wirbelnden Haarsträhnen schwebten um sie herum wie Tinte im Wasser, und ihre durchdringenden Silberaugen fixierten Nixxon mit einem amüsierten Grinsen.

„So, der entlaufene Prinz wagt es also, mich aufzusuchen“, murmelte sie mit einer samtigen und gefährlichen Stimme. „Sag mir, Kind des Nereus, welcher verzweifelte Wunsch führt dich an meine Schwelle?“

Ihr langes weißes Haar passte zu ihrer blauen Schwanzflosse und ihrer glatten, leuchtenden Haut. Die Runen auf ihrem linken Arm waren identisch mit denen an der Tür.

Die Hexe richtete ihren Blick auf den jungen Prinzen, kein bisschen überrascht, ihn dort zu sehen.

Nixxon hatte Neiredas Schönheit schon als Kind bewundert, und selbst jetzt sah sie so umwerfend aus, genau wie vor zwanzig Jahren. Meermenschen waren mit Langlebigkeit und Jugendlichkeit gesegnet, aber er glaubte, ihre müsse anders sein, denn sie schien sogar von Tag zu Tag jünger zu werden.

„Komm herein, Kind des Nereus“, sagte Neireda mit sanfter Stimme.

„Oh, tut mir leid“, murmelte Nixxon und betrat schnell das Haus.

Er hatte seinen eigentlichen Zweck beinahe vergessen, während er die schöne und ätherische Hexe anstarrte.

Dies war das erste Mal, dass er ihre Behausung betrat; er hatte erwartet, sie würde mit allerlei Hexenkram gefüllt sein, aber das Haus war einfach nur … sauber.

Der Raum war schlicht, mit einem Kristalltisch, über dem eine Kristallkugel einen Zentimeter schwebte. In einer Ecke des Raumes befand sich ein kleines Bett aus Seetang und daneben ein weißes Regal; es war geschlossen, also wusste er nicht, was darin aufbewahrt wurde, aber er war überzeugt, dass sie dort all ihre Tränke und andere magische Utensilien verwahrte.

„Komm, setz dich, Kind des Nereus“, winkte Neireda ihn sanft näher.

Nixxon bewegte sich auf sie zu und fragte sich, ob er sich auf ihr Bett setzen sollte; das wäre etwas seltsam, aber als er sich dem Tisch näherte, materialisierte sich ein weißer Stuhl vor ihm.

Er hielt einen Moment inne, bevor er sich setzte und nervös mit seiner Schwanzflosse wedelte.

Er beobachtete, wie Neireda zu ihrem Regal schwamm, den oberen Teil öffnete und einen silbernen Kelch, ein seltsam leuchtendes Blatt, ein Buch und ein silbernes Messer herausholte.

Nixxon hatte recht gehabt; dort bewahrte sie all ihre Sachen auf. Neugierig sah er zu, wie sie die Gegenstände auf den Tisch legte, aber genau wie die Kristallkugel berührten sie die Oberfläche nicht, sondern schwebten nur einen Zentimeter darüber.

„Ich nehme an, du kommst zu mir, weil du das willst, was jeder Meermann will: einen Wunsch?“, fragte Neireda, die hinter Nixxon schwebte.

Nixxon nickte. „Ja, wirst du mir meinen Wunsch erfüllen? Selbst wenn er das Königreich beeinträchtigen sollte?“, fragte er unsicher.

Neireda war eine einflussreiche Persönlichkeit im Königreich; er bezweifelte, dass sie noch bereit wäre, ihm seinen Wunsch zu gewähren, wenn sie erfuhr, dass er vorhatte, das Königreich … den Thron … aufzugeben.

Neireda lächelte, schwamm fließend auf die andere Seite des Tisches und ließ sich auf dem Stuhl nieder, den sie materialisiert hatte.

„Ich habe keine Kontrolle über deinen Wunsch und auch keine Meinung dazu, junger Prinz. Meine Pflicht ist es, dir deinen einen Wunsch zu gewähren“, streckte Neireda ihre Hand über den Tisch. „Gib mir deine Hand, junger Prinz“, sagte sie zu ihm.

Nixxon hob langsam seine Hand und wollte sie gerade auf ihre legen, doch sie zog ihre Hand zurück.

Verwirrt blickte er zu ihr auf. Er hatte bereits das Gefühl, dass sie ihn absichtlich hier festhielt, damit sein Vater ihn finden konnte.

„Deine linke Hand, junger Prinz“, sagte Neireda und streckte ihre Hand erneut aus.

„Oh, okay“, sagte Nixxon und gab ihr schnell seine linke Hand.

Er entspannte sich ein wenig. Sie wollte nur seine linke Hand, nichts weiter.

„Nun, nenne mir deinen Wunsch“, sagte sie, hielt seine Hand über den Kelch und griff nach dem silbernen Messer.

Nixxon schluckte. Er hatte nicht gewusst, dass ein Messer im Spiel war, aber er hatte keine Angst. Er war ein Reinblüter, er würde sofort heilen.

„Ähm …“, sagte er und blickte in das ernste Gesicht der Hexe, deren silberne Augen ihm direkt in die Seele zu blicken schienen.

Er fühlte sich frustriert; plötzlich fiel ihm kein Wunsch mehr ein.

„Nimm dir Zeit, junger Prinz“, sagte Neireda ruhig.

Er zerbrach sich den Kopf und rief sich alles ins Gedächtnis, worüber er je nachgedacht hatte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er erinnerte sich, wie er vor nicht allzu langer Zeit an seinem Fenster gestanden und auf die Bewohner des Königreichs hinübergeblickt hatte; er hatte sich gewünscht, frei zu sein wie sie, oder wie die Menschen … ja, ein Mensch.

Seine Mutter hatte ihm immer erzählt, dass die Menschen so frei seien, frei, sich zu bewegen und zu tun, was immer sie wollten. Er glaubte, dass die Menschen keine Einschränkungen hatten, keine Gesetze, die ihr tägliches Leben bestimmten, und schon gar keine Regel, die sie zwang, ein Erbe anzutreten, das sie nicht wollten.

Aber … er wünschte es sich nicht. Er wusste auch ohne zu fragen, dass sein Wunsch niemals in Erfüllung gehen würde.

Eine der Regeln des Königreichs verbot es ihnen, über die Ozeane hinauszugehen und sich jemals mit Menschen einzulassen, da sie als gefährliche Kreaturen galten.

Er ließ den Wunsch fahren. Er würde sich einfach darauf konzentrieren, aus dem Königreich zu entkommen.

„Ich wünsche mir, diesem Königreich zu entkommen, ohne entdeckt zu werden“, sagte er zu der Hexe.

Neireda lächelte. Selbst ohne ihre Magie wusste sie, was sein Wunsch war.

„Ist das Euer letzter Wunsch, junger Prinz?“, fragte sie.

Nixxon nickte entschlossen.

„Dann werde ich die Wasser fragen“, flüsterte Neireda sanft und schnitt ihm behutsam in die Handfläche.

Nixxon zuckte leicht zusammen, als die Klinge in seine glatte Haut schnitt, und er sah zu, wie sein goldenes Blut direkt in den silbernen Kelch wirbelte.

Seine Wunde schloss sich augenblicklich.

Neireda gab ihm seine Hand zurück und nahm dann das leuchtende Blatt. Sie murmelte einen Zauberspruch, und das Blatt fiel sanft in Form einer Paste in den Kelch und vermischte sich mit dessen goldenem Inhalt.

Er beobachtete mit Interesse und Neugier, wie sich sein Blut mit der grünen Paste vermischte und verwirbelte. Plötzlich färbte es sich Chartreuse, und die leuchtende, gelbgrüne Flüssigkeit hypnotisierte ihn.

„Nun, junger Prinz, blickt in die Kristallkugel“, sprach Neireda mit beruhigender Stimme.

Nixxon gehorchte und wandte sein Gesicht der Kristallkugel zu, um hineinzustarren. Doch in dem Moment, als er das Bild sah, das sich im Kristall zeigte, weiteten sich seine Augen, und Unglaube zeichnete sich auf seinem schönen Gesicht ab.

„Das ist Euer wahrer Wunsch, junger Prinz“, sagte Neireda.

Nixxon war zu schockiert, um zu sprechen, als er sich selbst anstarrte, wie er über den festen Sand der Menschenwelt ‚ging‘.

Langsam blickte er zu Neireda. „Woher wusstet Ihr das?“, fragte er neugierig und sah wieder in den Kristall.

Doch Neireda fuhr plötzlich mit der Hand über den Kristall, woraufhin das Bild verschwand.

Nixxon blinzelte schnell, als er das Bild nicht mehr sehen konnte, und richtete seine volle Aufmerksamkeit wieder auf die Hexe.

„Die Magie des Wassers kennt unsere Herzen, junger Prinz. Nun frage ich erneut: Was ist Euer Wunsch?“, fragte Neireda noch einmal und blickte Nixxon ins Gesicht.

Diesmal zögerte Nixxon nicht. Er wusste, dass sein Wunsch in Erfüllung gehen würde; da die Hexe weder überrascht noch verärgert war, hatte er keinen Grund, sich zurückzuhalten.

„Ich wünsche mir, ein Mensch zu werden“, sagte er und blickte der Hexe entschlossen in die Augen.

Diesmal gab es kein Zurück mehr; er würde gehen, und zwar für immer.

„Dann erlaube der Macht und der Magie unserer Gewässer, dir diesen Wunsch zu gewähren“, meldete sich Neireda zu Wort, nahm den Kelch und reichte ihn Nixon.

„Trink, junger Prinz, denn dein Wunsch wurde in diesen Kelch gegossen; nur wenn du trinkst, wird dein Wunsch in Erfüllung gehen“, sagte sie sanft.

Nixxon schluckte und nahm den Kelch aus Neiredas Hand. Er zögerte nur eine Sekunde, bevor er den Kelch an seine Lippen hob.

Während er die Flüssigkeit trank, hörte er, wie Neireda leise einige Zauberformeln murmelte und ihre Hände über den Kristall legte.

Er trank die geschmacklose Flüssigkeit aus, genau in dem Moment, als sie ihren Zauber beendete.

„Dein Wunsch wurde von den Wassergeistern gewährt; sie mögen traurig sein, aber sie haben dir deinen Wunsch erfüllt“, lächelte sie ihn an.

Großartig! Jetzt war sein Wunsch erfüllt, doch er fühlte sich seltsam. Seine Entscheidung machte ihm zu schaffen, als ihm klar wurde, dass er in eine völlig andere Welt mit anderen Menschen, anderen Überzeugungen und Kulturen aufbrechen würde. Aber er war entschlossen. Langsam nickte er Neireda zu und erhob sich vom Stuhl.

„Geh, Kind des Nereus. Dein starker Schwanz wird durch zwei Beine ersetzt, sobald du in der Menschenwelt an die Oberfläche kommst. Aber bedenke, in dem Moment, in dem du ein Mensch wirst, verlierst du die meisten deiner Fähigkeiten als Meermann“, sprach Neireda mit ihrer gewohnt sanften und doch schaurigen Stimme.

Nixxon dachte einen Moment darüber nach. „Danke für deine Hilfe“, erwiderte er, sein Entschluss stand fest.

Es war ihm egal, ob er alles verlor, was ihn mit dem Königreich verband, solange er ein Mensch blieb, würde es ihn nicht stören.

„Beeil dich, junger Prinz. Ich spüre sie in der Nähe, sie kommen, um dich zu holen. Und denk daran, folge immer dem Pfad der Fresser“, legte Neireda sanft ihre Hand auf seine Schulter.

Nixxon war sofort alarmiert; er musste weg. Er dankte Neireda schnell noch einmal und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Junger Prinz, nimm dies; es wird deinen Weg leiten; höre einfach darauf. Ich muss dich warnen, Kind des Nereus, dein Schicksal als Meermann ist anders als das eines Menschen. Wappne dich für das, was vor dir liegen mag“, legte Neireda Nixxon sanft ein silbernes Medaillon um den Hals.

„Leb wohl, Neireda“, sagte Nixxon und seine Hand schloss sich um das Medaillon.

Er nickte ihr ein letztes Mal zu und schwamm schnell aus der geöffneten Muscheltür.

Nixxon schwamm, schneller als je zuvor. Glücklicherweise besuchten nicht viele Leute diese Gegend. Er navigierte zwischen Steinen und hohen Skulpturen hindurch, Skulpturen seiner Mutter und seines Vaters.

Als er die Skulptur seines Vaters sah, schwamm er noch kräftiger, was seine Motivation zur Flucht erneuerte.

Genau wie Neireda es ihm aufgetragen hatte, folgte er dem Pfad der Fresser und schwamm höher, immer höher ins Unbekannte …

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