Kapitel 4
Nixxon schwamm so schnell wie noch nie in seinem Leben. Als er sich immer weiter von ihrem Königreich entfernte, kamen ihm beinahe Zweifel, doch er kämpfte sich weiter voran.
Die Fresser, die gefürchtetsten Jäger, waren zehnmal so groß wie ein Meermann und besaßen Kiefer, die zehn Meermänner auf einmal verschlingen konnten. Er wusste, dass er sich in ihrer Höhle befand, als er die Skelette seiner Artgenossen auf dem Meeresgrund liegen sah. Sein Herz raste, während er sein Tempo erhöhte.
Er erinnerte sich an die Geschichten, die man ihnen als Kindern erzählt hatte. Es hieß, wer es schaffte, die Höhle der Fresser zu durchqueren, würde bald die Menschenwelt erreichen, denn die Fresser sahen die neugierigen Menschen als leichtere Beute an als die Meermänner.
Als er durch einen hoch aufragenden Felsbogen schwamm, sah er einen riesigen Schatten über sich auftauchen. Ohne hinzusehen, wusste er bereits, dass ihn ein Fresser entdeckt hatte.
Blitzschnell schlug er mit seiner Schwanzflosse in einer unglaublichen Geschwindigkeit, wodurch sich hinter ihm starke Wasserwellen bildeten, die den riesigen Fresser verlangsamten.
Sie hatten einen Geschwindigkeitsvorteil, da sie schlanker und wendiger waren. Er hörte das tiefe Knurren des Fressers und begann schnell, von links nach rechts zu schwimmen. Bald spürte er die Anwesenheit von zwei Fressern hinter sich.
„Oh, nein!“, keuchte Nixxon. Er hob die Hand zu seinem Hals und schloss die Finger um das Medaillon. „Komm schon, Neiredas Medaillon, zeig mir den Weg!“, flehte er.
„Ahh!“, schrie er auf, als ihm der wütend aussehende Fresser beinahe die Schwanzflosse von der Hüfte biss.
Er hörte ein weiteres Knurren und lenkte seinen Kurs in einen Bereich mit vielen Felsen und weniger Platz. Dadurch bremste er die Fresser aus und schwamm schnell aus ihrem Territorium davon.
Bald sah er es. Seine Augen weiteten sich, als er einen goldenen Strahl dessen erblickte, was er für die Sonne hielt, die ins Meer schien.
Er hatte die Sonne noch nie gesehen, aber er hatte zahlreiche Geschichten über sie gehört, und genau wie sein Blut war auch die Sonne golden. Die Sonnenstrahlen zu sehen bedeutete, dass er es geschafft hatte.
Aber er entspannte sich noch nicht. Erst wenn er vollständig aus dem Wasser war, würde er sich entspannen.
Er schwamm weiter nach oben, kam der Oberfläche immer näher. Die Wassertemperatur war so warm, anders als in ihrem Königreich, und es gefiel ihm. Als er näherkam, sah er Seetang an der Wasseroberfläche treiben und auch unbekannte Objekte, die auf dem Wasser schwammen – wahrscheinlich irgendwelches Menschenzeug.
Schließlich war Nixxon nah genug an der Oberfläche, aber er streckte seinen Kopf noch nicht heraus. Er erinnerte sich, dass Neireda ihm gesagt hatte, in dem Moment, in dem sein Körper aus dem Meer auftauchte, würde er sich in einen Menschen verwandeln.
Langsam drehte er sich um und blickte so weit sein Auge reichte auf den Ozean hinaus. Alles, was er sah, war Dunkelheit, doch er wusste, dass das, was einst sein Zuhause gewesen war, tief am Grunde des Meeres lag.
Er wollte nicht zurück. Er war sehr weit von zu Hause entfernt und hatte all die Risiken nicht auf sich genommen, nur um jetzt aufzugeben und nach Hause zu fliehen.
Mit einem schweren Seufzer drehte er sich um und streckte den Kopf aus dem Wasser.
Zuerst verschluckte er sich.
Er hatte das Gefühl, seine Lungen würden sich zusammenziehen, als sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Er schloss die Augen vor der Sonne; sie war nicht grell, aber sie fühlte sich fremd an.
Er versuchte sein Bestes, so zu atmen wie unter Wasser, doch es erwies sich als mühsam. Er schlug mit den Händen um sich und spritzte Wasser auf, und als ihm klar wurde, dass er sterben würde, wenn er weiter so um Luft rang, beschloss er, ins Meer zurückzukehren. Doch gerade als er sich wieder untertauchen lassen wollte, riss er die Augen auf. Eine riesige Welle raste auf ihn zu. Er hasste Wellen; sie brachten ihn immer aus dem Konzept und aus dem Gleichgewicht, und jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für eine Welle. Er war einfach nicht in der Stimmung dafür.
Doch bevor er entkommen konnte, hatte die Welle ihn auch schon erreicht und spülte ihn an Land.
Plötzlich fand Nixxon sich zwischen feinem, glattem Sand und dem Wasser wieder.
Er war überrascht, dass er nun richtig atmen konnte. Die Luft strömte in seine Lungen, als er einen tiefen Zug nahm. Er staunte, wie gut es sich anfühlte; zum ersten Mal fühlte er sich lebendig.
Nachdem er sich an den menschlichen Atemmechanismus gewöhnt hatte, bemerkte Nixxon, dass er immer noch ein Meermann war. „Hat Neireda mich angelogen?“, dachte er mit einem traurigen Stirnrunzeln.
Er sah sich in seiner Umgebung um und entdeckte, dass er auf dem kalten, weichen Sand hinter einem riesigen, ovalen Felsen lag. Es schien, als würde die Sonne gerade untergehen. Er sah seltsame Abdrücke im weichen Sand, Spuren in verschiedenen Größen und Formen.
„Ich bin endlich draußen. Wie werde ich jetzt zum Menschen?“, dachte er und blickte auf das Medaillon.
Plötzlich schien die Sonne heller auf seine Haut, und seine silbernen und violetten Schuppen glitzerten. Er spürte ein seltsames Summen von Energie in sich. Bald überkam ihn eine bleierne Müdigkeit; er gähnte herzhaft und streckte die Arme über den Kopf.
Vielleicht war er einfach zu erschöpft, weil er die ganze Nacht ohne Pause gereist war. Er beschloss, seinen Kopf auf den Arm zu legen und ein kurzes Nickerchen zu machen.
Nach einer Weile öffnete Nixxon langsam die Augen und hielt sich sofort die Hand schützend davor. Er war überrascht, wie hell die Sonne schien. So etwas Helles und Heißes hatte er noch nie gesehen! Der Sand unter ihm fühlte sich glühend an, sogar heißer als der Feuerkristall, mit dem sie die Fresser abwehrten.
Er hob langsam eine Hand, hielt inne und starrte sie schockiert an. Dann hob er die zweite vor seine Augen, um sicherzugehen, dass er sich nichts einbildete … keine Schuppen mehr auf seiner Haut!
Seine Finger waren schmal und lang, seine Arme schlank und hell. Er konnte nicht glauben, dass er ohne diese leuchtenden Schuppen so schön aussehen konnte.
Ein plötzlicher Gedanke befahl ihm, seine Schwanzflosse zu überprüfen, und als er es tat, sah er das Erstaunlichste auf der Welt: Füße!
Er wackelte mit den Zehen und lächelte. Er war ein Mensch!
Doch seine Stirn legte sich in Falten, als sein Blick auf etwas Seltsames fiel, während er seinen Körper nach oben wanderte.
„Was ist das?“, murmelte er in der Sprache der Meermänner und war überrascht, wie sanft seine Stimme klang.
Er setzte sich auf und starrte zwischen seine Beine hinunter, wo er das seltsame Ding betrachtete, das wie eine Seegurke aussah, nur dass dieses hier glatter und um einiges kleiner war.
Er streckte die Hand aus und drückte es, fest.
„Argh!“, schrie er schmerzerfüllt auf, während sein Blick verschwamm.
Das war also ein Teil seines Körpers. Er hatte keine Ahnung, wofür Menschen dieses Ding benutzten, aber eines wusste er nun: Es war ein Körperteil, mit dem man niemals spielen sollte. Es tat mehr weh, als von dem Zepter seines Vaters erstochen zu werden.
Nixxon seufzte und blickte sich am Strand um. Er konnte keine Stimmen hören, was bedeutete, dass niemand in der Nähe war.
Langsam kroch er näher an den Felsen heran und hielt sich daran fest. Er keuchte auf, weil der Felsen so heiß war, aber er musste gehen. Er beugte die Beine nach hinten und kniete sich in den heißen Sand. Seine Hände dienten ihm als Antrieb, mit dem er sich nach oben zog, genau so, wie seine Mutter ihm erzählt hatte, dass die Menschen es taten. Es gelang ihm, sich an dem heißen Felsen abzustützen, um aufzustehen, doch in dem Moment, als er stand, zitterten seine Beine und er fiel zurück auf den Boden.
„Oh nein, was soll ich nur tun? Ich kann nicht laufen“, flüsterte er traurig vor sich hin.
Plötzlich fiel ihm etwas ein, das er als Meermann getan hatte, und er beschloss, es auszuprobieren: Er stützte sich erst auf einen Ellbogen, dann auf den anderen und lachte, als er sah, dass er sich langsam von seinem Platz entfernte.
Der Sand war heiß auf seiner Haut, aber er war entschlossen, sich weit vom Ozean zu entfernen. Er wollte nicht riskieren, von den Wellen zurück ins Meer getragen zu werden.
Nixxon war überrascht, wie groß der Strand war. Er sah etwas, das wie hölzerne Liegen mit riesigen Sonnenschirmen daneben aussah, und überlegte, dorthin zu gehen, um sich eine Weile auszuruhen. Doch dann fielen ihm kurze Holzstufen neben einem hohen, schönen Gebäude ins Auge, und er beschloss, in das Gebäude zu gleiten. Dort würde er mehr Schutz finden, als auf den Holzliegen zu liegen.
Nixxon kämpfte sich die Treppe hinauf, denn seine Ellbogen waren bereits blau und schmerzten. Er versuchte es immer wieder, aber er schaffte es einfach nicht nach oben.
Instinktiv ersetzte er seine Ellbogen durch die Hände und stützte sich dann auf die Knie, um sich aufrechtzuerhalten. Er wackelte eine Weile, fand aber einen Weg, die Treppe hinaufzukriechen, und lächelte dabei.
„So also bewegten sich die Menschen“, sagte er zu sich selbst.
Er runzelte die Stirn, als er oben an der Treppe ankam und sah, dass das Gebäude von einem hohen Zaun umgeben war. Ihm war klar, dass er da niemals durchkommen würde.
Sofort änderte er die Richtung und beschloss, dem Holzweg zu folgen. Er kroch und kroch, vorbei an Bäumen und niedlichen Blumen, bis er einen weichen, gemähten Pfad erreichte.
Er fragte sich, was das für Bäume waren und wozu sie dienten.
Er seufzte, als das weiche Gras seinen wunden Gliedern guttat, aber er bewegte sich weiter, bis er ein riesiges schwarzes Tor sah. Es war jedoch verschlossen.
Beinahe hätte er die Hoffnung verloren, doch plötzlich sah er eine vierbeinige, riesige und pelzige Kreatur, die genauso lief wie er, durch etwas schlüpfen, das wie ein kleineres Tor unterhalb des großen Tores aussah.
Sofort wusste er, dass dies sein Weg war.
Schnell kroch er hinüber und steckte zuerst seinen Kopf hindurch, dann seine Hände. Der schwierige Teil war, seinen Oberkörper hindurchzubekommen, aber als er das geschafft hatte, ließen sich seine Beine leicht nachziehen.
Als Nixxon nach vorne blickte, war er verwirrt. Ein langer, schwarzer und glatter Weg erstreckte sich vor ihm, und er wusste nicht, in welche Richtung er gehen sollte. Er schaute nach links, dann nach rechts, aber der Weg schien endlos. Er seufzte.
‚Welchen Weg soll ich jetzt nehmen?‘, dachte er, und ein leichtes Stirnrunzeln verriet seine Frustration.
Schließlich entschied er sich, nach links zu gehen. Legenden besagten, der rechte Weg sei immer der falsche. Also kroch er los, den linken Weg entlang.
„Aua …“, zischte er, als seine Hände und Knie den glühend heißen Weg berührten.
‚Wie überleben die Menschen das Kriechen in solch heißen Umgebungen?‘, dachte er leise, während er erschöpft weiterkroch.
Er wurde hungrig, und sein Magen verkrampfte sich und schmerzte, aber er ignorierte es und machte weiter.
Plötzlich riss Nixxon seinen Kopf herum, als er ein monströses Grollen hinter sich hörte. Seine Augen weiteten sich, als er das gigantische schwarze Monster sah, das mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zuraste. Er war wie erstarrt und wusste nicht, wie er entkommen sollte.
„Argh!!!“, schrie Nixxon, als das gigantische schwarze Monster ihn von hinten erfasste und ihn ein gutes Stück von seinem ursprünglichen Standpunkt wegschleuderte.
