Kapitel 6 Gekreuzte Wege
Bevor Mia begreifen konnte, was geschah, erfüllte Mandys Wehklagen die Luft über ihr, der Klang schien von aufrichtigem Bedauern durchdrungen zu sein.
„Lily, es tut mir so leid, ich habe einfach nicht nachgedacht. Es war wirklich ein Unfall“, schluchzte Mandy dramatisch.
Sie fügte hinzu: „Du bist meine kostbare Tochter. Ich habe dich neun Monate lang getragen und sogar einen Kaiserschnitt ertragen, um dich auf diese Welt zu bringen. Wie könnte ich dir jemals absichtlich wehtun? Es war wirklich ein Unfall. Bitte vergib mir nur dieses eine Mal, okay? Ich verspreche, es wird nicht wieder vorkommen. Ich liebe dich.“
Mandys theatralische Zurschaustellung mütterlicher Zuneigung schien Harrisons Ausdruck leicht zu mildern. Der einschüchternde Druck, der von ihm ausging, ließ endlich nach, wenn auch nur geringfügig. Obwohl sie jung war, spürte Mia die Veränderung in der Atmosphäre mit überraschender Wachsamkeit.
Sie verstand die Komplexität der Erwachsenenwelt nicht, aber sie begriff das grundlegende Konzept der Selbsterhaltung. In diesem Moment entschied sie sich, ihre Lippen fest zusammenzupressen und schweigend zu beobachten, um die Situation nicht weiter anzuheizen.
Simon, der die Veränderung bemerkte, trat vor und positionierte sich so, dass er Harrison ansprechen konnte, ohne überheblich zu wirken. Er senkte seine Stimme und vermittelte vorsichtig.
„Herr Frost, Frau Reed ist schließlich Lilys leibliche Mutter. Selbst das wildeste Tier würde seinen eigenen Nachwuchs nicht verletzen. Ich bin mir sicher, dass das nicht absichtlich war.“
Er hielt inne und runzelte die Stirn, als er den alarmierenden roten Fleck auf Mias Arm sah. „Kinderhaut ist so empfindlich – manchmal merken Erwachsene nicht, wie stark sie sind. Sie haben bereits Ihren Standpunkt im Namen von Lily deutlich gemacht. Vielleicht sollten wir uns jetzt auf das dringendere Anliegen konzentrieren, Dr. Johnson zu finden.“
Harrison atmete tief durch, unterdrückte seine Wut und blickte auf Mia, die leise in seinen Armen lag. Sein Blick, komplex und voller Emotionen, richtete sich schließlich auf Mandy, seine Stimme war kalt wie Eis.
„Denke daran, das ist das letzte Mal.“
Die darunterliegende Autorität und Warnung ließen Mandy innerlich erzittern.
Als sie die unmittelbare Bedrohung als vorübergehend ansah, nutzte sie schnell die Gelegenheit, ihr Gesicht in ein sanftes, gefälliges Lächeln zu verwandeln und versprach hastig: „Ich verstehe, Harrison. Ich gebe dir mein Wort – es wird absolut nicht wieder vorkommen!“
Eifrig, ihre mütterliche Hingabe zu demonstrieren, streckte sie die Arme nach Mia aus, ihre Stimme absichtlich zu einem sanften Tonfall gedämpft. „Komm, lass uns Dr. Johnson suchen. Lily, Schatz, lass Mama dich halten.“
Angesichts dieser ausgestreckten Arme zog sich Mia jedoch wie ein verängstigtes Kaninchen zurück. Die erstickende Umarmung und das aufdringliche Parfum waren ihr noch in Erinnerung. Diese Frau, die sich „Mama“ nannte, hatte etwas in ihren Augen, das Mia tiefes Unbehagen bereitete.
Ohne zu zögern drehte sie sich um und vergrub ihr kleines Gesicht gegen Harrisons breite, feste Brust, ihre winzigen Hände klammerten sich verzweifelt an sein Hemd.
Diese stumme Handlung war die absoluteste Zurückweisung.
Harrison versteifte sich einen Moment lang, überrascht von diesem plötzlichen, vollständigen Vertrauen des Kindes in seinen Armen. Etwas im weichsten Teil seines Herzens wurde sanft berührt.
In der Zwischenzeit blieben Mandys Hände unbeholfen in der Luft hängen, ihr Lächeln zerbrach zu einem Ausdruck von Demütigung und Eifersucht.
Harrison ignorierte sie völlig, passte einfach seinen Griff an, um Mia besser zu stützen – eine Hand sicher unter ihrem Po, die andere schützend auf ihrem kleinen Rücken, sanft beruhigend.
Mit Mia im Arm wandte er sich dem Operationssaal zu und hinterließ nur eine ruhige, entschlossene Aussage.
„Lasst uns gehen.“
Als er den Operationssaal betrat, schlug ihnen sofort ein starker Desinfektionsgeruch entgegen.
Das Innere war blendend hell, erleuchtete kalte Metallinstrumente und mehrere Krankenschwestern, die ihre Arbeit beendeten.
In diesem Moment erlosch die Hoffnung, die gerade in Harrisons Augen zu flackern begonnen hatte, abrupt und verwandelte sich schnell in unterdrückte, potenziell explosive Wut.
Er verweilte keinen Moment, drehte sich sofort um und verließ den Raum.
„Simon, suche weiter. Es ist mir egal, welche Methoden du anwendest – auch wenn du die ganze Stadt auf den Kopf stellen musst, finde Dr. Johnson!“
„Ja, Herr Frost! Ich mache mich sofort daran!“ Simons Stirn perlte vor Schweiß, als er sich schnell umdrehte und eilte davon, ohne eine Sekunde zu verschwenden.
Harrisons Gruppe bewegte sich in Richtung Aufzug, während Mandy vorsichtig hinterherging, selbst ihr Atem war gemessen und vorsichtig.
In der Tiefgarage fühlte sich die Luft abgestanden an.
Gerade als Harrisons Auto startete und langsam in Richtung Ausgang fuhr, scherte ein roter Sedan aus der benachbarten Spur ein.
Für die wenigen Sekunden, in denen ihre Fenster auf gleicher Höhe waren, schien die Zeit wie in einer Filmszene zu verlangsamen.
Durch die Windschutzscheibe fiel Mandys Blick direkt auf den Beifahrer im gegenüberliegenden Auto.
Die Zeit schien stillzustehen.
Mandys Pupillen zogen sich scharf zusammen, als alle Farbe aus ihrem Gesicht wich.
Es war Elena. Diese Schlampe war tatsächlich zurückgekehrt!
Gleichzeitig entdeckte Elena Mandy. Ihr Blick verweilte nicht oder verriet irgendeine Emotion – sie schaute einfach mit stiller Gelassenheit hinüber, bevor sie ruhig ihre Aufmerksamkeit anderswohin lenkte.
Diese Ruhe war eine stille Form der Folter.
Charlotte, die das Auto fuhr, blieb völlig ahnungslos gegenüber dem Austausch. Sie warf einen Blick auf die beiden wunderschön zarten Kinder im Rückspiegel und ihre Laune hellte sich auf.
„Mia, Connor, kommt schon, gebt mir einen Kuss! Nein, macht drei Küsse daraus!“
Vom Rücksitz aus nahm Connor sofort eine altkluge Miene an. „Patentante, das reicht. Ein Kuss ist mehr als genug, geschweige denn drei! Außerdem sagt mein Lehrer, dass Jungen und Mädchen angemessene Grenzen wahren sollten. Ich muss ablehnen!“
Charlotte brach in Lachen aus bei seiner Antwort und neckte ihn absichtlich. „Du kleiner Frechdachs, wie alt bist du, um über Geschlechtergrenzen zu sprechen? Willst du damit sagen, ich sei zu alt für dich?“
Sie nickte in Richtung Rücksitz, „Mia, los! Zieh deinem Bruder am Ohr und erteil ihm eine Lektion für mich!“
Charlotte war es gewohnt, spielerisch mit den Kindern zu scherzen. Normalerweise würde die temperamentvolle Mia auf Connors Kommando hin losstürmen, was in einem Durcheinander aus Kichern enden würde.
Heute jedoch ähnelte das kleine Mädchen auf dem Rücksitz einem erschrockenen Küken, ihre großen Augen waren voller schüchterner Unvertrautheit und Angst.
Sie wagte es nicht, sich zu bewegen oder zu sprechen, und schaute instinktiv zu Elena auf dem Beifahrersitz.
Diese Figur strahlte eine solche sanfte, beruhigende Wärme aus, dass sie nichts mehr wollte, als jede Sekunde in ihrer Umarmung zu bleiben und nie wieder getrennt zu werden.
Connor bemerkte Lilys ungewöhnliches Verhalten.
Als Zwillinge verstand er Mia besser, als er sich selbst verstand.
Aber dieses „Mia“ hatte sich seit dem Einsteigen ins Auto still in eine Ecke gekauert, wie ein verängstigtes Tier. Am auffälligsten war, dass ihre kleine Hand unaufhörlich und unbewusst am Saum ihres Kleides zupfte, bis der Stoff zerknittert war.
Das war etwas, das Mia nie tat.
Ein bizarrer, aber klarer Gedanke formte sich – dieses Mädchen war nicht seine Schwester Mia.
Mehrere Dutzend Minuten später hielt Charlottes Auto sanft vor dem luxuriösesten Hotel von Pinewood City.
Nach dem Einchecken und dem Erreichen ihres Zimmers schenkte Charlotte Elena ein Glas warmes Wasser ein. „Elena, was du mich gebeten hast, nachzuforschen – ich habe Fortschritte gemacht. Ich habe eine Haushälterin gefunden, eine Verwandte von mir namens Bronte Langley. Sie ist außergewöhnlich effizient und sauber, sehr gutherzig und macht unglaubliche Suppen. Sobald du dich eingelebt hast, werde ich sie vorbeischicken.“
Elena nickte, ihre Augen spiegelten Dankbarkeit wider.
„Es gibt noch eine Sache, bezüglich des Kindes, das du mich gebeten hast zu finden.“ Charlotte zögerte, als würde sie ihre Worte sorgfältig wählen. „Ein Freund von mir sagt, er glaubt, ein Kind in Pinewood City gesehen zu haben, das Connor und Mia bemerkenswert ähnlich sieht. Er konnte jedoch nicht genau sagen, wo.“
„Natürlich,“ fügte Charlotte hinzu, „werde ich weiter suchen. Wenn es irgendeinen Hinweis gibt, werde ich ihn nicht entkommen lassen.“
Bei der Erwähnung von „Kind“ wurde Elenas Ausdruck sofort ernst, ihr Blick wanderte zu den Lichtern der Stadt draußen vor dem Fenster, während sie in tiefes Nachdenken verfiel.
Nach einer langen Weile schaute Elena schließlich zurück zu Charlotte. „Lass uns die Sache mit dem Kind nicht überstürzen. Gehen wir es langsam an. In einem Hotel zu bleiben, ist keine langfristige Lösung. Das Haus, das meine Mutter mir hinterlassen hat – hast du arrangiert, dass es renoviert wird?“
Als Elena dieses Anwesen erwähnte, schien das helle Licht in Charlottes Augen zu dimmen, als würde es von einem Schatten bedeckt.
„Elena, es tut mir leid deswegen, ich...“ sie stockte, kämpfte schließlich mit den Worten, um die Wahrheit zu enthüllen. „Ich hatte bereits Arbeiter gefunden und geplant, das Haus richtig renovieren zu lassen. Aber als ich sie dorthin brachte, stellte ich fest, dass das Haus besetzt war.“











































































































































