Kapitel 2 — Mein Erlöser
Elara
Das war kein gewöhnlicher Wolf.
Es war ein Schattenwolf – der gefährlichste und tödlichste seiner Art. Und er starrte mich direkt an.
Verdammt!
Mein Herz setzte fast aus, als ich die roten Augen sah. Das schwarze Fell des Schattenwolfs schien das Mondlicht zu verschlucken und machte ihn zu einem Stück lebender Dunkelheit. Jeder wusste von diesen verfluchten Kreaturen – sie waren nicht wie normale Rudelwölfe. Sie waren Monster.
Ich umklammerte die Griffe meines Fahrrads fester und versuchte, das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Die Bestie versperrte den Weg zum Palast, ihr massiver Körper war wie eine gespannte Feder, bereit zum Angriff. Denk nach, Elara, denk nach! Ich hatte zwar keinen Wolf, aber ich wusste einiges. Mama hatte mir beigebracht, wie man überlebt.
„Bleib ruhig“, flüsterte ich zu mir selbst. „Nicht weglaufen. Sie jagen, wenn du wegläufst.“
Doch der Schattenwolf nahm mir die Entscheidung ab. Mit erschreckender Geschwindigkeit sprang er vor, die Kiefer schnappten dort zu, wo ich gerade noch gewesen war. Ich riss mein Fahrrad zur Seite und trat in die Pedale, so schnell ich konnte. Meine Beine brannten, als ich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, die Äste peitschten mir ins Gesicht.
Die Knurren des Monsters kamen näher. Ich konnte seine schweren Pfoten auf der Erde hinter mir hören, die mit jeder Sekunde lauter wurden. Tränen der Angst verschwommen meine Sicht. Ohne einen Wolf war ich diesem Wesen hilflos ausgeliefert.
Ein umgestürzter Baumstamm tauchte auf meinem Weg auf. Vor Schreck riss ich das Fahrrad zur Seite und rutschte unter dem Stamm hindurch, gerade als massive Krallen die Luft über mir durchpflügten. Das Fahrrad schleuderte unter mir weg, und ich rollte über den Boden, keuchend.
Die roten Augen des Schattenwolfs fanden mich erneut. Er pirschte sich näher, die Lippen zurückgezogen, um Fangzähne zu zeigen, die länger als meine Finger waren. Das war es. Ich würde hier sterben, allein in der Dunkelheit.
Plötzlich fiel ein Schatten von den Bäumen über mir. Ein Mann landete zwischen mir und der Bestie, seine breiten Schultern blockierten meine Sicht. Der Schattenwolf knurrte, doch irgendetwas an dem Fremden ließ ihn zögern.
„Verschwinde.“ Seine Stimme war tief und gebieterisch. Das Wort schien Kraft zu tragen, ließ die Luft selbst vibrieren.
Die Ohren des verfluchten Wolfs legten sich an. Es trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Mit einem letzten, markerschütternden Knurren drehte es sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Was!
Wer ist er?
Mein Herz raste immer noch, als sich der Fremde zu mir umdrehte. Mir stockte der Atem – er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Dunkles Haar fiel über Augen, die im Mondlicht wie Bernstein leuchteten. Eine Narbe zog sich über seine linke Wange und machte ihn nur noch markanter.
„D-danke“, stammelte ich und versuchte, auf wackligen Beinen aufzustehen. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn-“
Doch er ging bereits weg, seine Bewegungen waren so geschmeidig wie die eines Raubtiers. Über seine Schulter rief er: „Bleib nachts aus dem Wald. Es ist gefährlich.“
Dann verschwand er und ließ mich allein mit meinem pochenden Herzen und tausend Fragen zurück.
Ich hob mein Fahrrad auf, dankbar, dass es nicht stark beschädigt war. Meine Hände hörten nicht auf zu zittern, als ich die Griffe umklammerte.
Wer war dieser geheimnisvolle Mann?
Warum konnte er einen Schattenwolf befehligen?
Ich wollte mehr über ihn wissen, aber er war verschwunden wie ein Traum.
Die Lichter des Palastes lockten noch immer. Ich konnte jetzt nicht aufgeben, nicht nach all dem, was ich durchgemacht hatte. Aber ich konnte nicht auf einen königlichen Ball gehen, wenn ich so aussah – mein Kleid war zerrissen und schmutzig von der Verfolgungsjagd.
Ein kleines Kleidergeschäft fiel mir ins Auge, seine Fenster waren für die Nacht dunkel. Ich biss mir auf die Lippe, Schuldgefühle drehten mir den Magen um. Stehlen war falsch. Mama wäre enttäuscht. Aber ich dachte an Misty in dem ruinierten Kleid meiner Mutter, an Jahre der Grausamkeit und des Schmerzes.
„Nur dieses eine Mal“, flüsterte ich und fand eine lose Diele an der Rückseite des Ladens. „Ich muss es versuchen.“
Drinnen enthüllte das Mondlicht Reihen wunderschöner Kleider. Meine Finger zitterten, als ich eines auswählte – mitternachtsblaue Seide, die jeden Lichtschimmer einzufangen schien. Es war nicht das Kleid meiner Mutter, aber irgendetwas daran fühlte sich richtig an.
Ich zog mich schnell um, das Herz raste bei jedem kleinen Geräusch. Das Kleid passte perfekt, als wäre es für mich gemacht. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich schön. Ich ließ das wenige Geld, das ich hatte, auf dem Tresen – nicht genug, aber besser als nichts.
Der Palast raubte mir den Atem, als ich mich näherte. Riesige weiße Mauern schienen im Mondlicht zu glühen, Fenster strahlten Wärme und Licht aus. Musik wehte heraus und ließ mein Herz schneller schlagen. Irgendwo drinnen lag meine Chance auf ein anderes Leben.
Andere Mädchen kamen in schicken Autos an, trugen teuren Schmuck und perfektes Make-up. Ich berührte mein schlichtes Gesicht, Zweifel schlichen sich ein. Was hatte ich mir nur gedacht? Ich gehörte nicht hierher. Ich war nur ein wolfloses Niemand in einem gestohlenen Kleid.
Aber Mamas Stimme flüsterte in meiner Erinnerung. „Du hast Magie in deinem Herzen, Elara. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.“
Tief durchatmend stieg ich die großen Treppen hinauf. Mein geliehenes Kleid raschelte um meine Füße, während ich mich durch die Menge bewegte. Alles glitzerte – die Kronleuchter, die Marmorböden, die Juwelen, die die wohlhabenden Rudelmitglieder schmückten. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Traum wandeln.
Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch. Irgendwo in dieser Menge könnte mein Gefährte sein, jemand, der über meinen fehlenden Wolf hinwegsehen und erkennen würde, wer ich wirklich war. Jemand, der mich trotz meiner Fehler lieben würde.
In diesen Gedanken verloren, bemerkte ich die feste Wand aus Muskeln vor mir nicht, bis ich direkt hineinstieß. Starke Hände hielten mich fest, bevor ich fallen konnte.
„Es tut mir so leid, ich habe nicht darauf geachtet, wo-” Die Worte erstarben in meiner Kehle, als ich aufsah.
Bernsteinfarbene Augen starrten auf mich herab, voller Wiedererkennung und etwas anderem, das ich nicht deuten konnte. Es war er – mein geheimnisvoller Retter aus dem Wald. Aus der Nähe war er noch atemberaubender. Ein starker Kiefer, volle Lippen und diese Narbe, die nur zu seiner gefährlichen Schönheit beitrug.
„Du...“, sagte er, seine Stimme jagte mir Schauer über den Rücken. Sein Griff um meine Arme wurde leicht fester. „Was machst du hier?“
Die Art, wie er mich ansah, ließ mein Herz schneller schlagen. Aber bevor ich antworten konnte, verdüsterte sich sein Ausdruck.
„Du hättest nicht kommen sollen.“ Seine Worte waren hart, aber in seinen Augen... war das Angst, die ich dort sah? „Du musst sofort gehen.“
„Aber warum-“
Ein Tumult am Eingang unterbrach mich. Wachen schrien, Menschen schrien. Durch die großen Türen schlich eine massive schwarze Gestalt mit glühenden roten Augen.
Der Direwolf hatte mich gefunden.
Und er war nicht allein. Verdammt! Es ist alles meine Schuld. Ich bin verloren.
