Drittes Kapitel
Kapitel 3
„Die mit dem unschuldigen Gesicht sind immer die wahren Goldgräber“, fauchte Miss Pat, ihre Stimme voller Gift, während sie Tia anstarrte. „Wenn du Geld gebraucht hättest, hättest du nicht wenigstens um Hilfe bitten können? Musstest du wirklich deine klebrigen Finger benutzen, um etwas zu nehmen, das du dir in hundert Jahren nicht leisten könntest?“
„Ma’am, ich schwöre... ich habe es nicht genommen“, schluchzte Tia, Tränen strömten über ihre Wangen. Ihre Stimme brach, als sie versuchte, sich zu verteidigen, aber ihre Worte stießen auf taube Ohren.
„Das reicht.“ Adam Blacks Stimme durchschnitt die Spannung im Raum. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Verärgerung und Ungläubigkeit. „Das Portemonnaie wurde gefunden, also hat es keinen Sinn, das weiter hinauszuzögern. Aber du...“ Seine Augen fixierten Tia. „Du Diebin, du musst bestraft werden.“
Tias Beine wackelten, als sie sich an ihrer Schürze festklammerte, ihr Herz pochte in ihrer Brust. Nora stand wie erstarrt da, ihr Gesicht blass, während sie hilflos zusah, wie ihre Freundin zusammenbrach.
„Überlassen Sie das mir, Mr. Black“, sagte Miss Pat und trat mit ihrer gewohnten autoritären Haltung vor. „Ich kümmere mich darum.“
Adam nickte scharf, sein Gesichtsausdruck gleichgültig. „Gut. Tun Sie, was Sie müssen. Bringen Sie sie einfach hier raus.“
„Tia, nimm deine Sachen und verlasse sofort das Gelände“, befahl Miss Pat kalt, ihre Worte trafen wie ein letzter Schlag. „Du bist gefeuert.“
Tias Lippen zitterten, und für einen Moment sah es so aus, als könnte sie zusammenbrechen. Sie blickte zu Nora, flehte stumm um irgendeine Art von Intervention, aber Nora stand einfach nur da und konnte ihrem Blick nicht begegnen.
Mit der wenigen Kraft, die ihr noch blieb, wischte sich Tia die Tränen mit zitternden Händen ab und sammelte ihre Habseligkeiten. Ihre Sicht war verschwommen, aber sie zwang sich, Schritt für Schritt aus der Suite zu gehen, den Job, die Demütigung und das erdrückende Gewicht des Verrats hinter sich lassend.
Als Tia das Hotel verließ, bemerkte sie, wie Nora ihr subtil ein schnelles Zeichen gab – sie würde später anrufen. Es war eine kleine Geste, aber sie half kaum, das schwere Gefühl in Tias Brust zu lindern.
Miss Pat hingegen war nicht so freundlich. Ohne zu zögern, hielt sie Tias ausstehenden Lohn zurück und verweigerte ihr auch nur einen Cent. Keine Erklärungen, keine Entschuldigungen – nur eine kalte Entlassung, die Tia sich selbst überließ.
Auf dem Heimweg raste Tias Verstand, das Gewicht ihrer Realität erdrückte sie. Ihre Träume vom College schienen mit jedem Schritt weiter in die Ferne zu rücken. Wie sollte sie jetzt weitermachen?
Das Gesicht ihres jüngeren Bruders blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Bei ihm war Krebs diagnostiziert worden, und die Chemobehandlungen zehrten das wenige Geld auf, das sie hatten.
Er war die einzige Familie, die sie noch hatte, und Tia hatte geschworen, alles zu tun, um ihn am Leben zu halten.
Dieser Job, so anstrengend er auch war, war ihre Lebensader gewesen – das Einzige, was ihre Rechnungen bezahlte, ihre Miete deckte und das Licht anließ.
Es war ein Faden der Hoffnung gewesen, etwas, an das sie sich klammerte, während sie still für das College sparte. Und jetzt war selbst dieser Faden gerissen.
Tia biss sich auf die Lippe, unterdrückte die Tränen und verstärkte ihren Griff um den Riemen ihrer abgenutzten Tasche.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie das durchstehen sollte, aber eines war sicher – sie konnte es sich nicht leisten, zusammenzubrechen. Nicht, wenn ihr Bruder sie stark brauchte.
Tia stieß die Tür des Krankenzimmers auf, ihr Herz zog sich zusammen bei dem Anblick, der sich ihr bot. Freddy, ihr fünfzehnjähriger kleiner Bruder, saß auf dem Bett, sein kahler Kopf fing das Licht vom Fenster ein. Trotz seines schwachen Körpers begrüßte er sie mit demselben warmen Lächeln, das selbst die dunkelsten Tage erhellen konnte.
„Hey, Schwester“, sagte Freddy, seine Stimme sanft, aber fest. „Du bist spät dran. Hast du vergessen, dass ich der Star dieser Show bin?“
Tia zwang sich zu einem Lachen, biss den Kloß in ihrem Hals hinunter. „Wie könnte ich das vergessen? Ich habe darauf gebrannt, die Diva in Aktion zu sehen.“
Freddy grinste und hob dramatisch die Arme. „Willkommen in meinem Königreich der Infusionsschläuche und Wackelpuddingbecher. Willst du ein Autogramm?“
Tia ging hinüber und setzte sich auf die Bettkante, nahm seine Hand in ihre. Sie fühlte sich so klein, so zerbrechlich an, und doch drückte er ihre Finger, als wollte er sie beruhigen.
„Du siehst heute besser aus“, sagte sie und strich einen losen Faden von seiner Decke. „Muss an all den Jell-O-Bechern liegen, die du hortest.“
Freddy beugte sich näher zu ihr, seine Stimme sank zu einem gespielten Flüstern. „Das ist meine Geheimwaffe. Die Krankenschwestern denken, ich mag die Limetten, aber sie wissen nicht, dass ich sie gegen Erdbeer eintausche.“
Tia lachte, diesmal ein echtes Lachen, und Freddys Lächeln wurde breiter, als hätte er gerade einen Preis gewonnen. Doch dann wurde sein Blick weicher, als er sie ansah.
„Geht’s dir gut?“ fragte er, den Kopf schief legend. „Du siehst... müde aus.“
Ihr Hals zog sich zusammen. Freddy bemerkte es immer, egal wie sehr sie es zu verbergen versuchte. „Mir geht’s gut“, log sie und glättete seine Decke. „Nur Arbeitssachen.“
Freddy runzelte die Stirn. „Du musst aufhören, dir so viele Sorgen um mich zu machen, T. Ich bin der Starke, erinnerst du dich? Das hast du selbst gesagt.“
Tias Brust schmerzte. „Du bist stark, Freddy. Stärker als jeder, den ich kenne.“
„Dann vertrau mir“, sagte er, seine Augen fixierten ihre. „Wir schaffen das. Zusammen.“
Tia konnte es nicht mehr zurückhalten. Sie lehnte sich vor und umarmte ihn vorsichtig, als könnte er zerbrechen, obwohl sie wusste, dass er es nicht würde. Freddy umarmte sie zurück, seine Wärme erinnerte sie daran, warum sie jeden einzelnen Tag so hart kämpfte.
Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihren Moment. Tia löste sich von Freddy, ihr Herz noch schwer, als der Arzt eintrat. Er war ein Mann mittleren Alters mit freundlichen Augen und einem Klemmbrett unter dem Arm.
„Frau Nelson“, sagte er sanft und blickte zwischen Tia und Freddy hin und her, bevor er sich auf sie konzentrierte. „Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen? Privat.“
Tias Magen zog sich zusammen. Sie nickte, drückte Freddys Hand, bevor sie aufstand. „Ich bin gleich zurück, okay?“ sagte sie zu ihrem Bruder und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Freddy nickte, obwohl sein neugieriger Blick auf ihnen verweilte, als Tia dem Arzt in den Flur folgte.
In dem Moment, als die Tür hinter ihnen geschlossen war, änderte sich der Ausdruck des Arztes, seine Professionalität verwandelte sich in etwas Besorgteres. Tia spürte das Gewicht seiner Worte, bevor er überhaupt sprach.
„Ich wollte Sie über Freddys Zustand informieren“, begann er, seine Stimme leise. „Er spricht auf die Behandlung an, aber...“
Ihre Brust zog sich zusammen. „Aber?“ wiederholte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Der Arzt zögerte, als suche er nach der sanftesten Art, den Schlag zu überbringen. „Die Chemotherapie setzt seinem Körper stark zu. Wir sehen Anzeichen dafür, dass sein Immunsystem erheblich geschwächt wird. Das ist bei Fällen wie seinem nicht ungewöhnlich, aber es bedeutet, dass wir besonders wachsam sein müssen. Er hat ein höheres Infektionsrisiko, und... die Kosten für seine zusätzliche Pflege könnten steigen.“
Tias Kopf drehte sich. Höhere Kosten. Sie konnte die Rechnungen kaum bewältigen, wie es war. Ihr Job war das Einzige, was sie über Wasser hielt, und jetzt...
„Frau Nelson?“ Die Stimme des Arztes durchbrach ihre wirbelnden Gedanken. „Geht es Ihnen gut?“
Sie schluckte hart, nickte schnell, obwohl ihr Herz zu zerbrechen drohte. „Ja. Mir geht’s gut. Ich werde... Ich werde es herausfinden.“
Der Arzt betrachtete sie einen Moment lang, bevor er ihr ein kleines, mitfühlendes Nicken schenkte. „Wenn Sie Fragen haben oder Unterstützung benötigen, zögern Sie bitte nicht, sich zu melden. Freddy ist ein Kämpfer. Wir werden alles für ihn tun.“
Tia zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihre Augen mit ungeweinten Tränen brannten. „Danke, Doktor.“
Als er wegging, lehnte sich Tia gegen die kalte Wand des Flurs, ihre Hände zitterten. Ihre Gedanken wanderten zurück zu Freddys Lächeln, seinem Optimismus, dem Glauben, dass sie das zusammen durchstehen würden. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen—nicht jetzt, niemals.
Mit einem tiefen Atemzug richtete sie sich auf. Es musste einen Weg geben. Für Freddy musste es immer einen Weg geben.
