Teil 1. Verloren
Ava wachte aus einem besonders heftigen Albtraum auf, nach Luft schnappend und sich an die Brust klammernd, als würde ihr Herz jeden Moment herausfallen. Schweiß lief ihr über die Stirn, ihre Lippen waren bei der plötzlichen Bewegung geöffnet. Das Geräusch ihres rasenden Blutes hallte in ihren Ohren wider.
Sie blinzelte und versuchte, ihre Augen an das plötzliche Licht anzupassen, das in den Schuppen strömte.
Die Omega hatte nur die flüchtige Erinnerung daran, im Wald von etwas verfolgt worden zu sein, bis ihr klar wurde, dass sie tatsächlich von Bäumen umgeben war, mitten im Nirgendwo. Es war jetzt eine Woche her.
Ihr Rudelhaus war meilenweit entfernt, und sie hatte keine Möglichkeit, den Weg nach Hause zu finden. Alles, was die Omega besaß, war nun verloren. Warum musste sie so impulsiv sein? In ihrem Kopf glaubte Ava, ihren Rudelmitgliedern zu helfen und sie zu retten, indem sie einen Streuner verfolgte. Karl. Das ist sein menschlicher Name.
Karl hat ihr Rudel terrorisiert, besonders die Omegas am Fluss. Er versuchte gewaltsam, seinen Anspruch auf sie zu erheben, packte sie und ging manchmal sogar so weit, sie zu markieren. Das Ganze ekelte die Omegas an und machte ihnen Angst.
Sie konnte nicht tatenlos zusehen. Deshalb ging Ava allein zum Ufer und verfolgte den Streuner. Ein langes Verfolgungsspiel begann, und dabei verlor sie die Zeit und ihren Weg aus den Augen, fand sich in fremdem Gebiet wieder. Der Streuner-Alpha war nirgends zu sehen und ließ sie in einem unbekannten Land zurück.
In den ersten Tagen versuchte Ava verzweifelt, den Weg zurückzufinden, heulte stundenlang ohne Erfolg. Nichts geschah. Der Wald war dunkel, mysteriös tief, mit hohen Bäumen, in denen die Stimme nur widerhallte. Irgendwie endeten alle Wege, die sie nahm, immer am gleichen Ort. Sie war kurz davor aufzugeben.
Die Omega fand sich oft in ihrer Wolfsform wieder, hauptsächlich um nach Nahrung zu jagen. Sie ernährte sich, indem sie kleine Tiere wie Kaninchen oder Frettchen jagte und versuchte, sich im Schatten zu verbergen. Das Letzte, was sie wollte, war, Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie Wildschweine und Hirsche tötete.
Am zweiten Tag war sie es leid, auf den massiven Baumstämmen zu schlafen, ihre Muskeln fühlten sich wund an. Ava suchte nach einem Schlafplatz und fand glücklicherweise einen verlassenen Schuppen. Da die Omega nichts außer den Kleidern, die sie trug, bei sich hatte, war es kein Problem, dort zu bleiben.
Als sie sich umsah, stellte sie bitter fest, dass niemand es wagen würde, nach ihr zu suchen. Selbst wenn sie es täten, wäre es nahezu unmöglich, sie zu finden, mit der Menge an Neutralisatoren, die sie gesprüht hatte. Nicht, dass sie diesen Weg aktiv gesucht hätte, sie versteckte nur ihre Identität als Omega wegen der Angriffe auf ihre Art.
Die Omegas werden in großer Zahl gejagt, einige an wohlhabende, ältere Alphas versteigert, während andere als Knotenhuren benutzt werden. Der Begriff allein ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Knotenhuren werden gezwungen, die Knoten der Alphas zu nehmen und ihnen einen männlichen Alpha zu gebären.
Sie wischte sich den Schweiß mit ihrem langärmeligen Hemd vom Gesicht und tastete umher, versuchte, den Schlaf aus ihren Augen zu blinzeln. Bei näherer Betrachtung stellte die Omega fest, dass die dichten Bäume vor dem Schuppen das natürliche Licht blockierten.
Als sie aufstand, trat die Omega aus ihrem Versteck heraus und seufzte zufrieden bei dem warmen Sonnenstrahl, der sie traf. Ava spürte immer noch die Überreste der Angst tief in ihrem Inneren, aber das Tageslicht wirkte wie eine Droge auf die Omega, und sie stand einige Minuten vor der Sonne.
Hinter ihr knirschte etwas, wahrscheinlich getrocknete Blätter, gefolgt von einem heftigen Atemgeräusch. Ava schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, schloss die Augen und hoffte, dass es nur ein wildes Tier war, das vorbeiging.
Als das Geräusch lauter wurde, konnte sie nicht mehr stillstehen. Die Omega drehte sich um, um dem bedrohlichen Geruch entgegenzutreten, und sie musste nicht lange warten, bevor der typische und übermäßig große, muskulöse Alpha durch die Lücke in den Bäumen schlenderte. Er war oberkörperfrei, nur eine Jeans hing tief auf seinen Hüften. Ein weiterer Streuner. Sie schnaubte, als sie die dunklen schwarzen Augen sah, die in ihre bohrten.
Streuner sind leicht zu erkennen; nach ihrer Verbannung aus dem Rudel wird die natürliche Augenfarbe durch Dunkelheit ersetzt. Die Wölfe glauben, dass die Mondgöttin es so für den Rest ihres elenden Lebens vorgesehen hat.
Der Eindringling blieb stehen, als er die kurvige, kleine Omega sah, und legte den Kopf interessiert zur Seite. Sie dachte, dass niemand außer ihr hier lebte. Wer war er? Etwas in seinen Augen verriet sich, die Veränderung ließ sie auf der Stelle erstarren. Was wollte der Alpha? Ava presste die Lippen zusammen.
„Na, bist du nicht ein reizendes kleines Geschöpf, ganz allein in diesem riesigen Wald“, schnurrte der Schurke bedrohlich, während er sich ihr näherte. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf.
Nicht, dass Ava es erwähnen musste, aber das war nicht gut. Der Alpha war viel zu nah, als dass sie sich auf ihren Wolf verlassen konnte. Sie hatte nicht einmal einen scharfen Gegenstand bei sich, verdammt noch mal.
Solche Unannehmlichkeiten würden die Omega jedoch niemals davon abhalten, einen tapferen Versuch zu unternehmen. Ava holte scharf Luft. „Was willst du?“
„Ist es nicht mittlerweile offensichtlich?“ Das Lachen kratzte in ihren Ohren und verursachte Schauer, die ihr den Rücken hinunterliefen.
„Verschwinde von mir!“ knurrte sie, hielt stand und verengte ihre Augen auf ihn. „Sonst werde ich dich verletzen.“
Der Mund des Schurken klappte vor Erstaunen auf, überrascht von dem, was er gerade gehört hatte, aber dann verzogen sich die Mundwinkel zu einem eindeutig erfreuten Grinsen. „Das ist beeindruckend für eine Omega. Sag mir, was machst du hier ganz allein, Liebes? Hat dein Gefährte dich verlassen? Hat er dich rausgeworfen?“ fragte er und setzte seinen Vormarsch auf sie fort. „Keine Sorge, ich kann mich um dich kümmern.“
Omega. Er nannte sie bei ihrem wahren Status und nicht bei dem, den sie vorgegeben hatte. Hatte der Schurke ihren wahren Duft gewittert? Wie hatte er es herausgefunden? Sie verfluchte innerlich, versuchte jedoch, eine mutige Fassade zu bewahren.
„Ich bin keine Omega!“
„Du kannst mich nicht täuschen“, knurrte der Schurke, als er sich in ihre Richtung warf, bereit, die Omega zu packen.
Ava war auf der defensiven Seite des Kampfes, versuchte, seinen Klauen auszuweichen. Er ist schnell, dachte sie, zog sich weit genug zurück, um erneut zuzuschlagen, und schoss ohne nachzudenken vor. Der Alpha wich wieder aus, und – als ob das nicht schon schlimm genug wäre – nutzte er ihren ungeschützten Rücken aus und packte die Omega von hinten.
Der Schurke umschloss ihren Hals mit einem kräftigen Arm, eine andere Hand packte ihr Handgelenk, um plötzliche Bewegungen zu verhindern.
Ava hatte damit gerechnet. Die Alphas liebten es, die Omegas zu dominieren und ihre Stärke durch schmierige Taktiken zu zeigen. Nichts, was sie nicht schon einmal erlebt hatte. Sie wartete auf den perfekten Moment, um zuzuschlagen.
Sie war kurz abgelenkt, extrem verstört, als sie den heißen, fauligen Atem an ihrem Nacken spürte und eine völlig unangebrachte und schlecht getimte Erektion gegen ihren runden Hintern drückte. War dieser Alpha ernsthaft? dachte Ava unter ihrem Atem, der Mund verzogen vor Ekel.
„Was wirst du jetzt tun, Omega?“ hauchte der Schurke heiß an ihr Ohr, während der Schraubstockgriff um ihr Handgelenk unmöglich fester wurde und sie letztendlich auf den Waldboden zwang. Rote, heiße Wut brodelte in ihrem Bauch, und sie begann, den vertrauten Satz zu murmeln.
Etwas knackte in der Ferne und unterbrach ihr Mantra. Die junge Frau öffnete neugierig ein Auge, und ein Paar schlanker Füße kam in ihr Blickfeld. Ihr Hals wurde plötzlich trocken, die Handflächen feucht und sie klammerte sich an die Ärmel ihres Hemdes.
Gefährte. Die innere Stimme schoss sofort durch ihre Ohren und ließ ihre Knie wackeln. Durch ihre verschwommene Sicht schaffte sie es, aufzublicken und den dichten Duft eines anderen Alphas wahrzunehmen. Zitrone und starker Vanille. Ihre Augen rollten zurück, die Brust füllte sich mit Wärme.
Grüne smaragdgrüne Augen bohrten sich in ihre; langes braunes Haar war hinter seinem Kopf gebunden, die anderen Strähnen flossen wie ein Wasserfall über seine definierte Brust. Sein Kiefer spannte sich an, als er bemerkte, dass der Schurke sie gewaltsam hielt. Bevor sie es wusste, warf ihr Gefährte den Schurken zu Boden.
Sie begannen, sich gegenseitig Schläge zu versetzen, während sie sich zu einem nahegelegenen Baum zurückzog und zusah, wie ihr Gefährte dem Schurken in einem Augenblick die Kehle herausriss. Blut spritzte über sein Gesicht, als er aufstand und auf sie zuging.
„Geht es dir gut?“ kam seine raue, aber sanfte Stimme, die sofort ihre Augenbrauen vor Verwirrung zusammenzog.
Überrascht von der echten Besorgnis in seinen Worten, blickte Ava auf und traf den Blick dieses überlegenen Alphas, blinzelte dumm. Er hatte sie gerade vor diesem Schurken gerettet.
Der Alpha lächelte und beugte sich vor, als er eine große und feste Hand ausstreckte, um der jungen Frau aufzuhelfen, und Ava betrachtete die Hand, als wäre sie eine Schlange. Was, wenn er sich als genauso herausstellte wie dieser Schurke? Erkannte er sie als seine Gefährtin? Warum reagierte er nicht? Sie hatte so viele Fragen in ihrem Kopf.
Kopfschüttelnd nahm sie seine ausgestreckte Hand an und beseitigte schnell alle Fragen, die sie hatte.
„Vielen Dank, aber—“ Als Ava versuchte, einen Schritt weiter zu gehen, stolperte sie und fiel in seine Brust, und alles wurde schwarz.
























































































