


kapitel 2
Die Erde musste auf dem Kopf stehen. Alles war schief. Kamilla stöhnte.
Ihre Augen.
Sie musste sie öffnen.
Nein, sie waren zu schwer. Sie gab auf und versuchte nicht mehr, ihre schweren Augenlider zu öffnen.
Ein plötzlicher Anfall von Übelkeit durchfuhr ihren Körper und Kamilla stöhnte vor Schmerz.
Plötzlich ertönte ein scharfes Geräusch, das sie zusammenzucken ließ.
Eine Sirene? Sie wusste es nicht, aber der Klang erfüllte ihre Ohren, füllte ihren Kopf. Es war schrill und schmerzhaft.
In dem Wunsch, dem scharfen Geräusch zu entkommen, entspannte sich Kamilla in seliger Dunkelheit, als diese sie überkam und sie nichts mehr fühlte.
Taub.
Es war, als wäre sie am Grund des Ozeans. Sie wurde von einer unsichtbaren Kraft festgehalten, die ihr so unbekannt war, dass sie alles Mögliche sein konnte.
Ein sanftes Geräusch erreichte sie durch die Dunkelheit in ihrem Kopf. Beruhigend. Eine Stimme. Kamillas Herz schmerzte.
Ihre Mutter.
Es war plötzlich. Eine Minute fühlte sie sich, als wäre sie in den Tiefen des Ozeans, und in der nächsten, als würde sie durch den Wind rasen.
Unfähig zu atmen, schnappte Kamilla verzweifelt nach Luft.
Ihre Augen flogen auf.
Sie war zu Hause.
Sie saß am Küchentisch und starrte ihre Mutter an, die ihr gegenüber saß. Es war verschwommen, wie ein nebulöser Traum.
Kamilla betrachtete die Tränen, die in den schokoladenbraunen Augen ihrer Mutter glitzerten, so anders als Kamillas leuchtend grüne Augen. Das blonde Haar ihrer Mutter stand im Gegensatz zu Kamillas scharlachrotem Haar.
„Kamilla. Dein Vater…“, sagte ihre Mutter leise. Kamilla starrte sie an. „Dein Vater war nicht nur ein Vampir. Er war ein Ältester des Onyx-Vampirreiches.“
Kamilla starrte schweigend, ihr Kinn zitterte. Sie hatten ihre Mutter besucht. Die Vampire.
Oh ja. Das stimmte. Kamilla war nicht mehr menschlich. Anscheinend war sie es nie gewesen.
Der Traum wurde verschwommen und ihre Mutter verschwand, aber ihre Stimme blieb in Kamillas Kopf.
„Dein Vater hat versprochen…“, flüsterte sie. „…dich.“
Kamilla hörte sich selbst lachen. Das Geräusch hallte durch die Dunkelheit ihres Geistes. Es klang verächtlich. Es klang, als käme es von jemand anderem.
Sicherlich war das alles Unsinn.
„Er hat dich versprochen“, flüsterte ihre Mutter. „…in die Ehe mit dem nächsten Vampirkönig…“
Kamilla riss sich hoch, ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust. Sie keuchte schwer und zog tief Luft ein.
Was war passiert?
Ihr Kopf tat weh. Winzend berührte sie mit einem Finger ihre Schläfe. Langsam kamen die Erinnerungen zurück. Sie schnappte nach Luft.
Oh nein. Sie hatten sie erwischt. Diese blutsaugenden Ratten hatten sie erwischt.
Sie war fast entkommen.
Ihre rosafarbenen Lippen öffneten sich und stießen einen gemurmelten Fluch aus. Sie hob ihr Kinn, suchend mit den Augen. Sie war in einem Raum. Ihr Blick fiel auf das Bett, auf dem sie saß, und ihre zitternden Finger berührten sanft die glatten, schwarzen Seidenlaken.Um das Bett herum hingen lange, dunkle Spitzenvorhänge, durch die sie nicht viel vom Raum erkennen konnte. Aus dem Wenigen, was sie sehen konnte, wusste Kamilla, dass sie noch nie in ihrem Leben ein so luxuriöses Schlafzimmer gesehen hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen gegen den Schmerz in ihrem Kopf schwang sie ihre nackten Füße über die Bettkante und zog den Vorhang zur Seite.
„Wo zur Hölle sind sie?“ murmelte sie und versuchte verzweifelt, das Zittern ihres Herzens vor Angst zu ignorieren.
Sie biss sich auf die Lippe und versuchte zu akzeptieren, dass sie wirklich entführt und eine Geisel war.
Sie waren aus dem Nichts aufgetaucht, zurück im Wald. Die Onyx-Vampire. Sie hatten sie umzingelt, bevor sie auch nur blinzeln konnte.
Sie wollte sie nicht Männer nennen, da sie ihrer Meinung nach nichts weiter als blutsaugende Fledermäuse waren, aber sie fand keinen anderen „akzeptablen“ Begriff für sie. Außerdem waren sie viel, viel zu schön, um Fledermäuse genannt zu werden.
Sogar sie selbst war einen Moment lang von ihrer Schönheit fasziniert gewesen. Verdammt. Sie hatte sich ablenken lassen. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sie hierhergekommen war. Sie mussten sie hypnotisiert haben. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihr dickes rotes Haar.
Kamilla drehte sich im Kreis und betrachtete den großen Raum. Jedes einzelne Ornament, von den langen Fensterbehängen bis zum einzelnen Sessel, selbst die Kommode sah aus, als käme es direkt aus einem teuren Dracula-Film.
Alles war dunkel und schön, luxuriös und faszinierend.
Kamilla verzog das Gesicht und zwang sich, alles, was sie sah, abstoßend zu finden. Es spielte keine Rolle, dass sie insgeheim vor der Schönheit des Raums in Ohnmacht fallen wollte. Sie war immer noch ein Mädchen, und Schönheit war Schönheit. Aber nein. In Ohnmacht zu fallen würde ihr im Moment nicht weiterhelfen. Denn sie war entführt worden.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Kamilla wischte sie weg, verachtete sich selbst dafür, dass sie so hilflos war. Was sollte sie tun? Wie konnte sie entkommen? Sie seufzte und betrachtete den Luxus um sich herum.
Sie würde alles an diesem Ort hassen. Ja. Sie würde einen Aufstand machen und ihnen die Hölle heiß machen, bis sie sie nach Hause ließen.
Sie mussten es irgendwann tun, oder? Vampire konnten doch nicht so herzlos sein, oder?
Es war ihr einziger Plan. Sie würde sie hassen, sie würde ihr Königreich hassen und sie würde verdammt noch mal ihren König hassen, verdammt seine Fledermausflügel!
Mit einem selbstsicheren Nicken marschierte sie zu den dunklen Fensterbehängen und zog sie zur Seite, wodurch hohe Fenster zum Vorschein kamen.
„Heilige…“
Kamilla starrte auf die Aussicht und konnte sich einen Moment lang nicht bewegen.
Es war, als wäre sie in einem wunderschönen Albtraum gefangen. Das Land erstreckte sich, ein hügeliges Gelände voller gezackter dunkler Felsen, Kurven und Senken. Weiter hinten, so weit das Auge reichte, waren dunkle Wälder, der Himmel unheimlich grau über den hohen Bäumen.Kamillas Augen weiteten sich, und sie starrte mit offenem Mund auf die großen, schwarzen Vögel, die am Himmel kreisten und die perfekte Kulisse für ein Vampir-Königreich schufen.
„Du bist wach.“
Kamilla drehte sich um, die Fäuste zur Verteidigung erhoben. Ihr Herz machte einen Sprung in ihrer Brust. Was würden sie mit ihr machen?
Sie blinzelte. Da war niemand.
Die Stimme war direkt hinter ihr gewesen. So nah, dass sie das Gefühl hatte, eine Schulterbewegung würde ihren Besitzer berühren. Aber ihre Augen sahen niemanden.
Ungeduldig ließ Kamilla ihre Arme sinken und seufzte.
„Hör mal“, sagte sie und versuchte, ihre zitternde Stimme zu beruhigen. „Ich habe null Toleranz für Bullshit.“
Kamilla war ihr ganzes zweiundzwanzigjähriges Leben lang eine soziale Außenseiterin gewesen. Mit ihrer blassen Haut und den auffallend grünen Augen, ganz zu schweigen von den karmesinroten Haaren, fanden die anderen Kinder es immer unterhaltsamer, sich über sie lustig zu machen, als ihre Freundin zu sein. Das heißt, diejenigen, die sich nicht vor ihr fürchteten. Wenn es also um soziale Höflichkeit ging, hatte sie keine und würde auch keine haben, solange dieser Vampir weiterhin Verstecken spielte.
Sie wollte gerade etwas sagen, als sich wie durch Zauberei die Luft vor ihr zu verändern begann.
Kamillas Augen wurden groß, als sie zusah.
Die Luft verdunkelte sich und wirbelte vor ihren Augen, und aus ihr trat ein blasshäutiges Kunstwerk hervor.
Kamilla hätte das Keuchen nicht unterdrücken können, selbst wenn es keinen Sauerstoff gegeben hätte. Er war atemberaubend.
„Kamilla“, begrüßte er sie. In einer Weise, die identisch mit derjenigen war, die sie aus dem Wald entführt hatte, neigte dieser Mann seinen Kopf. „Unsere Königin.“
Kamilla verzog das Gesicht und blinzelte, um sich aus ihren Gedanken zu reißen.
Sie blinzelte alle Tränen weg und legte die Hände in die Hüften, während sie ihn ansah. „Du, da!“
Der Blick des Mannes schnellte ungläubig nach oben, und er blinzelte sie mit seinen weiten grünen Augen an.
Kamilla nickte. „Ja, d-du! Ich befehle dir, mich auf der Stelle hier rauszulassen!“
Eine blasse Hand fuhr sich durch das blonde Haar, während er sie mit hochgezogener Augenbraue anstarrte. „Ähm, ich habe nicht die Befugnis, deinen Wunsch zu erfüllen.“
„Wer bist du?“
Der Vampir winkte mit einer blassen Hand. „Hi“, sagte er. „Ich bin Damon.“
Sie schnaubte und musterte ihn. „Klingt verdächtig nach ‚Dämon‘.“
Sein Mund zuckte vor Ungeduld. „Ja, und wie mein Name, kann auch ich ziemlich dämonisch sein.“
Sie blinzelte ihn an. War das eine Art Drohung gewesen?
„Was hast du gesagt?“ fragte sie mit geweiteten Augen. „Ist das eine Drohung? Nachdem du deine blutsaugenden Schergen auf mich gehetzt hast, die irreparablen Schaden an meiner emotionalen und psychischen Gesundheit verursacht haben, drohst du mir noch immer?“
Der Vampir zuckte kaum mit der Wimper. Er neigte den Kopf nachdenklich, während er sie musterte. „Wie melodramatisch. Du hast Manieren, die einer Onyx-Königin völlig unwürdig sind, meine Königin.“„Mein Name ist Kamilla! Nicht ‚meine Königin‘, du Halsbeißer! Und ich denke nicht, dass ich höflich sein muss, wenn du mich gegen meinen Willen mitgenommen hast. Wo ist meine Mutter? Wenn du ihr auch nur einen Finger gekrümmt hast—“
„Deine Mutter ist sicher zu Hause, wo du sie zurückgelassen hast. Fürs Erste.“
„Wenn du sie jemals wieder besuchst, wenn du sie jemals wieder erschreckst, reiße ich dir deine Fangzähne eigenhändig heraus, Blutfledermaus.“ Ihre Stimme zitterte vor Angst, aber sie stand fest.
Er hob eine Hand. „Genug davon. Komm. Du musst Viktor kennenlernen.“
Kamilla schluckte. „W-w-wer... wer ist das?“
Er ignorierte sie.
Bevor sie etwas anderes sagen konnte, begann sich der Boden zu verschieben. Kamilla schnappte nach Luft. Was geschah hier? Es fühlte sich an, als würden ihre Füße über dem Boden schweben, was ihr ein schwindliges Gefühl gab. Kamilla hielt sich den Bauch. Wenn sie sich übergeben müsste, würde sie sicherstellen, dass es auf die glänzenden schwarzen Schuhe des Vampirs geschah.
Sie beobachtete voller Schrecken, wie die Dunkelheit sie einhüllte und in einer kalten Welle um ihren Körper wirbelte.
„Was ist das?“ fragte sie, ihre Stimme zitterte auf die peinlichste Weise. „Was machst du?!“
Ihre geschriene Frage erhielt keine Antwort und im nächsten Moment fühlte Kamilla, wie ihre Füße wieder den Boden berührten und ihr Magen sich beruhigte, leider ohne seinen Inhalt auf die Schuhe des Vampirs entleert zu haben.
Die dunkle, wirbelnde Luft verschwand und der Vampir lächelte, senkte seine erhobenen Arme wie ein Dirigent nach einem Konzert.
Sie funkelte ihn an.
Sie machte einen Schritt nach vorne, um ihm das Lächeln von seinem wunderschönen Gesicht zu wischen, aber hielt inne.
Etwas war anders.
Kamilla schloss die Augen, als ein Schauer des Bewusstseins durch ihren ganzen Körper lief.
Sie fühlte sich... seltsam.
Dieser Raum fühlte sich fremd an. Sie öffnete ihre Augen und blickte über den Vampir vor sich hinaus. Es war ein anderer Raum. Er hatte sie teleportiert?!
Der Gedanke war unglaublich, aber Kamilla konnte nicht lange darüber nachdenken. Sie fühlte etwas Unerklärliches. Es war dunkel und mächtig, zog ihre Seele in verschiedene Richtungen. Es rief sie, zwang sie. Es war eine Kraft.
„Kamilla.“
Sie schnappte nach Luft.
Die Stimme kam von hinter ihr. Dunkel, mächtig und sinnlich klang sie. Kamilla war angewidert, dass sie sich von dieser Stimme angezogen fühlte. Mehr angezogen als jemals zuvor in ihrem Leben.
Langsam, vorsichtig begann sie sich umzudrehen. Sie hielt die Augen geschlossen, aus Angst vor dem, was sie sehen würde. Unbestreitbar Angst vor der Kraft, die sie anzog.
Endlich hatte sie sich umgedreht.
„Kamilla“, hörte sie erneut.
Es war er. Kamilla wusste es einfach. Es musste er sein.
Langsam öffnete sie ihre Augen.
In der Dunkelheit stand er, seine Macht stärker als alles, was sie je gefühlt hatte. Kamilla konnte ihre Augen nicht abwenden. Er kontrollierte sie, zog sie allein durch seine Präsenz an.
Sie zitterte.
Der Vampirkönig.