Kapitel 2: Paige
Die Straßen von Alderstone sind nachts anders – dunkler, schärfer, lebendig mit einem Puls, der unter der Oberfläche schlägt. Ich gehe schnell, meine Absätze klacken auf dem rissigen Pflaster, die Lichter der Stadt werfen seltsame Schatten, die sich lang und dünn strecken. Ich hätte ein Auto rufen sollen, aber heute Nacht brauchte ich die Distanz, ein wenig Raum zum Atmen.
Doch ich kann immer noch Jacobs Blick in meinem Rücken spüren, die anhaltende Erinnerung daran, dass ich nie wirklich allein bin. Er folgt mir aus der Ferne, ein stiller Schatten, der darauf trainiert ist, in der Nacht zu verschwinden. Ich hasse es, dass er da ist, aber ein Teil von mir ist auch dankbar; wenigstens bin ich nicht völlig allein auf diesen Straßen.
In Gedanken verloren bemerke ich den Mann erst, als er direkt in meinen Weg tritt, sein Lächeln ein wenig zu breit, sein Blick verweilt zu lange. „Hey, Hübsche“, schnurrt er und macht einen Schritt auf mich zu, seine Stimme glatt und träge.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, Angst flammt heiß in mir auf, aber ich verberge sie, zwinge mein Gesicht in die kühle, unbeeindruckte Maske, die ich gelernt habe zu tragen. „Verpiss dich“, sage ich, meine Stimme flach, in der Hoffnung, dass er den Hinweis versteht und abhaut.
Tut er nicht. Stattdessen lacht er, ein tiefes, beunruhigendes Geräusch, und kommt noch näher. „Ach, sei nicht so. Dachte nur, ich leiste dir Gesellschaft. So ein hübsches Mädchen wie du sollte nicht allein auf diesen Straßen unterwegs sein.“
Ich mache einen Schritt zurück, meine Haut prickelt, als ich spüre, wie sich die Luft um uns herum verändert. „Ich bin nicht interessiert“, sage ich und zwinge Stärke in meine Stimme, obwohl jeder Nerv in meinem Körper mir sagt, ich solle rennen.
Aber es scheint ihm egal zu sein. Er macht einen weiteren Schritt, jetzt zu nah, seine Stimme ein Murmeln, das charmant sein soll, aber mit etwas Dunklerem getränkt ist. „Komm schon, nur ein paar Drinks, vielleicht ein bisschen mehr… Wovor hast du solche Angst?“
Angst krallt sich in mir fest, aber ich halte mein Gesicht ausdruckslos, weigere mich, es ihm zu zeigen. „Ich habe nein gesagt“, schnauze ich, versuche, einen Biss in meine Worte zu legen, den ich nicht ganz fühle. „Geh nach Hause. Bevor du es bereust.“
Er grinst höhnisch und greift nach meinem Arm, und ich ziehe mich zurück, mein Herz rast, während ich gedanklich die Entfernung zu Jacob berechne, die Schritte, die ich machen müsste, um zu rennen.
Doch dann, wie aus dem Nichts, teilt ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Ein Schuss.
Der Mann fällt, klammert sich an sein Bein, schreit vor Schmerz, während er sich auf dem Boden wälzt, die Hände glitschig von Blut, das sich bereits über das Pflaster ausbreitet. Ich stehe da, erstarrt, das Adrenalin rauscht so heftig durch mich, dass mir die Knie weich werden.
Ich drehe mich um, und da steht Jacob, die Waffe noch gezogen, sein Ausdruck so ruhig, als hätte er gerade eine Fliege erschlagen.
„Was zur Hölle, Jacob?“ schreie ich, meine Stimme zittert, während ich auf ihn zustürme. „Du musstest ihn nicht erschießen! Er hat nur mit mir geredet!“
Jacob zuckt nicht einmal. Er steckt seine Waffe zurück in das Holster, sein Gesicht eine Maske der Gleichgültigkeit. „Befehle sind Befehle, Miss Taylor“, sagt er, als ob das genug wäre. „Niemand nähert sich Ihnen. Niemand berührt Sie.“
Ich schlucke schwer, Ekel dreht sich in meinem Magen, während die Stöhnen des Mannes im Hintergrund widerhallen. Ich weiß, wie die Dinge im Crimson Circle laufen, wie sie denken, dass Gewalt alles löst, aber das hier… das ist zu viel. Es ist krank. „Er würde mir nichts tun“, zische ich, aber Jacobs Blick wankt nicht. Da wird mir klar, dass es ihm egal ist. Keinem von ihnen.
Ich drehe mich auf dem Absatz um, lasse den Mann auf dem Boden liegen, ignoriere Jacobs gleichmäßige Schritte hinter mir, während ich nach Hause eile, mein Magen ein verdrehter Knoten aus Wut, Scham und etwas Dunklerem, das ich nicht einmal benennen kann. Was stimmt nicht mit dieser Welt? Was stimmt nicht mit uns?
Als ich endlich das Haus erreiche, fühle ich mich erschöpft, als wäre ich ausgehöhlt. Die Lichter sind gedimmt, und der Ort fühlt sich kälter an als sonst, die Schatten scheinen größer. Ich finde meinen Vater in seinem Arbeitszimmer, vertieft in einige Unterlagen, ruhig und beherrscht, als könnte ihn nichts auf der Welt je berühren.
„Deine Wachen sind unberechenbar“, fauche ich, kaum in der Lage, die Wut aus meiner Stimme zu halten. „Jacob hat gerade einen Mann auf der Straße erschossen – nur weil er auf mich zugekommen ist.“
Mein Vater blickt nicht auf, sein Gesichtsausdruck unverändert, während er etwas auf dem Papier vor ihm unterschreibt. „Wir können es uns nicht leisten, dass unserer Übersetzerin etwas zustößt“, sagt er, und sein Tonfall ist so beiläufig, dass es wie eine Ohrfeige wirkt.
Seine Worte treffen mich wie ein scharfer, unerbittlicher Dolch. Nicht seine Tochter. Nicht Paige. Nur die Übersetzerin des Crimson Circle.
Ein Werkzeug. Ein Vermögen.
Er war nie wirklich mein Vater. Väter erziehen ihre Töchter nicht zu Schachfiguren, die in Räumen voller Mörder sitzen und sich mit falschen Lächeln schützen. Väter behandeln ihre Töchter nicht wie Eigentum.
Ich stehe einen Moment lang da, betäubt, lasse seine Worte auf mich wirken, dann drehe ich mich um und zwinge mich, nicht zurückzublicken. Es tut zu sehr weh.
Das Badezimmer ist still, das leise Klicken der Tür hallt wider, als ich sie hinter mir schließe. Ich drehe das Schloss um und lehne mich einen Moment lang gegen das kalte Holz, lasse die Stille mich umhüllen. Meine Haut fühlt sich gespannt an, fast juckend unter dem Gewicht der Nacht – die Anspannung, der Schuss, die abweisenden Worte meines Vaters. Es haftet an mir wie eine zweite Haut, und ich will es nur wegwaschen.
Ich ziehe meine Kleidung aus und steige in die Dusche, drehe den Knopf, bis das Wasser in einem gleichmäßigen, heißen Strahl herunterfließt. Als es meine Haut berührt, breitet sich Hitze über meine Schultern aus und beruhigt die Anspannung in meinen Muskeln. Ich atme aus, ohne zu merken, dass ich den Atem angehalten hatte, neige den Kopf zurück und lasse das Wasser über mich strömen, alles wegwaschen – den Schmutz, den Rauch, den Geruch von abgestandenen Ledersitzen und Angst.
Ich greife nach meinem Shampoo, drücke eine Portion in meine Hand und atme den sanften, blumigen Duft ein, während ich es durch mein Haar arbeite. Der vertraute Geruch von Lavendel und Kamille erfüllt die Luft, beruhigend, fast wie ein Wiegenlied. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, nur für einen Augenblick, dass das alles ist. Keine Gangs, keine Wachen, keine Waffen. Nur der Duft von Lavendel, der sanfte Rhythmus des Wassers und ich – ein Mädchen, zwanzig Jahre alt, das ein einfaches Leben führt. Ein normales Leben.
Ich schäume das Shampoo auf, lasse es sich zu einem reichhaltigen, duftenden Schaum entwickeln, meine Finger massieren meine Kopfhaut, während sich der Duft wie ein Schutzschild um mich legt, als könnte er die Dunkelheit von Alderstone fernhalten. Ich spüle es langsam aus, fühle, wie das Gewicht des Tages den Abfluss hinuntergleitet, die Erinnerungen mit den Blasen verblassen.
Als nächstes kommt die Seife – Vanille und Honig, warm und süß, die sich wie eine Decke um mich legt. Ich streiche sie über meine Haut, genieße den seidigen Schaum, das Gefühl, wirklich sauber zu sein, als könnte ich all die Dinge abwaschen, die ich gesehen habe, all die Dinge, die ich sagen musste. Ich lasse meine Hände verweilen, streiche über meine Arme, meine Schultern, und wünsche mir, dass dieser Moment ewig andauern könnte.
Für ein paar kostbare Minuten bin ich einfach Paige. Nicht die Übersetzerin des Crimson Circle, nicht das Werkzeug meines Vaters. Nur ein Mädchen, eingehüllt in Lavendel und Honig und Dampf, das sich etwas fühlt, das der Ruhe nahekommt.
Aber schließlich kühlt das Wasser ab, und die Realität beginnt zurückzukehren. Ich atme tief ein, lasse die letzten Reste der Wärme in meine Haut eindringen, und drehe dann die Dusche ab. Als ich aussteige, sehe ich, wie der Dampf aufsteigt und in der Luft verschwindet, genau wie dieses flüchtige Gefühl von Normalität.
Ich wickele mich in ein Handtuch, halte es fest um mich, genieße diese letzten ruhigen Momente, bevor ich wieder in die Welt außerhalb dieses Badezimmers treten muss.
