Kapitel 1 Fehlidentifikation
Der Abend war drückend heiß.
Olivia Smith stand am Eingang der Billardhalle und hielt eine Lunchbox fest. Drinnen hallten die Geräusche von Billardkugeln und das Lachen von Männern wider.
Sie wollte wirklich nicht hineingehen, aber die flehende Stimme ihrer Mutter, Indigo Smith, klang ihr noch immer im Ohr von dem Telefonat.
"Olivia, nur dieses eine Mal, bitte. Dein Bruder John hat schlimme Bauchschmerzen... Lass ihn nicht hungern. Bring ihm das Essen und geh dann gleich wieder, okay?"
"Bitte, ich flehe dich an. Unser Leben in der Williams Villa ist nicht einfach. Wir müssen ihn bei Laune halten..."
'Ihn bei Laune halten?'
'Einen großen, starken Mann, der sich selbst versorgen kann, wie ein Kind behandeln?'
Olivia holte tief Luft und stieß die schwere Glastür auf.
Ein übler Geruch schlug ihr sofort entgegen, und sie verzog das Gesicht.
Die Beleuchtung war schwach, und obwohl nicht viele Menschen da waren, herrschte Chaos.
Sie überflog den Raum schnell, sah jedoch nicht die Gestalt, vor der sie sich fürchtete – ihren Halbbruder John Williams.
"Hey, schaut mal! Johns Freundin ist hier!"
Ein blonder Typ mit einer Zigarette im Mund bemerkte sie als Erster und rief in einem spöttischen Ton.
Die Leute an den nahegelegenen Billardtischen drehten sich um und musterten Olivia wegen ihres guten Aussehens.
Sie hatte ein kleines Gesicht mit glatter Haut und trug ein türkisfarbenes Kleid, das ihre schlanke Figur betonte.
Als sie das Wort "Freundin" hörte, wurde Olivias Gesicht rot.
Sie wollte es erklären, erinnerte sich aber an Johns Warnung und schluckte ihre Worte hinunter.
"Halt deinen Mund, Olivia!"
"Wenn jemand von deiner Mutter und meinem Vater erfährt, werdet ihr beide aus der Williams Villa geworfen!"
Peinlich berührt hörte Olivia das scharfe Geräusch einer Billardkugel, gefolgt von einigen Ausrufen aus dem hinteren Teil der Halle.
Instinktiv schaute sie hinüber.
Ein großer Mann richtete sich neben einem Billardtisch in der Ecke auf.
Er trug ein schwarzes T-Shirt, hatte gerade einen Stoß gemacht und hielt den Queue lässig, mit einem entspannten Lächeln im Gesicht.
"Hey, Olivia, sei nicht schüchtern. Ich habe dich schon mal gesehen!"
Der blonde Typ kam näher, der Rauchgeruch drang zu ihr herüber.
"Los, erzähl uns, wie du John kennengelernt hast? Er ist wirklich schnell!"
Andere stimmten ein, und Olivias Wangen brannten. Sie wollte nur die Lunchbox abgeben und so schnell wie möglich wieder gehen.
Dann bemerkte sie, wie der Mann in der Ecke zu ihr hinüberblickte.
"Was drängt ihr euch alle so um sie herum?"
Eine träge, aber bedrohliche Stimme kam plötzlich aus Richtung der Tür.
Olivia erstarrte, ihr Herz blieb fast stehen.
John war zurück.
Kaugummi kauend, die Hände in den Taschen, schlenderte er langsam herüber, mit diesem vertrauten, zynischen Lächeln, das einen Hauch von Bedrohung in sich trug, den Olivia nur zu gut kannte.
Zuerst sah er Olivia nicht, aber als er sie bemerkte, verwandelte sich sein Blick in eisige Dolche.
Olivia trat hastig vor, reichte ihm die Lunchbox, ihre Stimme kaum hörbar.
"Ich dachte, du wärst alleine..."
Ein lauter Knall explodierte neben ihrem Ohr.
Ohne einen Blick auf die Lunchbox zu werfen, schwang John seine Hand gewaltsam!
Die Brotdose flog aus Olivias Hand und krachte auf den Boden in der Nähe ihrer Füße. Der Deckel sprang ab, und Essen und Suppe verteilten sich überall, verschmutzten ihre abgetragenen Leinenschuhe.
„Wer hat dir gesagt, dass du hierherkommen sollst?“ Johns Stimme erhob sich, erfüllt von unverhohlener Verärgerung und Bosheit. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich nicht vor mir blicken lassen sollst? Kannst du kein einfaches Englisch verstehen?“
Die vertraute Angst überkam Olivia, und alle waren von Johns plötzlichem Ausbruch schockiert. In der toten Stille ertönte das Geräusch eines Billardtisches, der abgeräumt wurde.
Dann trat die große Gestalt aus der Ecke aus den Schatten. Olivia hob ihre tränengefüllten Augen und sah den Mann von vorhin, senkte aber schnell den Kopf, als sie Johns bösartigen Blick bemerkte.
„John, das reicht.“
Charles Greens ruhige, aber feste Stimme durchbrach die Spannung, als er herüberkam. John erstarrte, dann schien er etwas äußerst Amüsantes zu finden. Die Gewalt in seinem Gesicht verblasste, ersetzt durch ein verstörendes Lächeln, sein Blick wanderte zwischen Charles und Olivia hin und her.
„Charles, habe ich richtig gehört? Du mischst dich jetzt ein?“ Er spottete und nickte in Olivias Richtung, als ob er über einen Gegenstand sprach. „Interessiert? Sicher, sie gehört dir.“
Olivia stand wie erstarrt, ihr Gesicht blass. Sie hatte nicht erwartet, dass Indigos Nachmittagsbemühungen als Müll auf dem Boden enden würden. Ein starkes Gefühl der Demütigung und Wut überwältigte ihre Angst. Plötzlich hob sie den Kopf, blickte in Johns verärgertes Gesicht und ihre Stimme wurde scharf.
„John, für wen hältst du dich?“
„Mama hat den ganzen Nachmittag damit verbracht, sich um deinen Magen zu sorgen und dieses Essen zuzubereiten! Sie hat sich in die Hand geschnitten und sich nicht einmal beschwert!“
„Ich bin nach der Schule sofort hergekommen, ohne meine Hausaufgaben zu machen, weil ich Angst hatte, dass du hungrig bist! Hast du überhaupt ein Gewissen?“
Der Billardsaal fiel in Schweigen. Alle starrten schockiert auf die sonst so stille und schüchterne Olivia, die es nun wagte, sich dem berüchtigt schwierigen John entgegenzustellen. Selbst John war verblüfft. Er hatte nicht erwartet, dass die sonst so unterwürfige Olivia zurückschlagen würde.
Nach ihrem Ausbruch fühlte sich Olivia erschöpft. Sie drehte sich abrupt um und rannte hinaus, verschwand in der Nacht. John sah ihr nach, kratzte sich frustriert am Kopf, sein Schock wich tieferer Wut. Er wollte gerade seine verblüfften Freunde anfahren, als Charles' ruhige Stimme unterbrach.
„John.“
John drehte sich scharf um und traf auf Charles' tiefe, unergründliche Augen. Charles' Blick verweilte auf der Tür, durch die Olivia verschwunden war.
„Was?“ Johns Ton blieb wütend und ungeduldig, immer noch verärgert über die Unterbrechung. „Du hast es selbst gesehen, das Haus ist ein Chaos, ich habe wirklich keine Lust, mich zu entschuldigen!“
Er nahm an, dass Charles gekommen war, um ihn zu tadeln. Charles sah langsam zurück zu John, sein Gesicht ausdruckslos.
„Keine Notwendigkeit, sich zu entschuldigen.“
Er machte eine Pause und fragte dann deutlich in Johns verwirrtem und gereiztem Blick.
„Sag mir nur, auf welche Schule geht Olivia?“
Charles' Frage traf wie ein Stein, der in stilles Wasser geworfen wird.
John riss den Kopf herum, sein Gesicht zeigte immer noch Anzeichen von Verärgerung, jetzt gemischt mit einer Schicht von Unglauben.
„Du fragst nach ihr?“
„Charles, meinst du das ernst?“
Charles' Blick war schwer und fest auf Johns Gesicht gerichtet. Er antwortete nicht, aber sein Ausdruck zeigte, dass er keinen Spaß machte.
Die Gruppe um John herum begann sofort zu johlen, mit Pfiffen und seltsamen Geräuschen, die die Luft erfüllten.
„Charles ist verknallt?“
„Ich wusste es! Die Art, wie Charles Olivia vorhin angesehen hat, war merkwürdig!“
„Unmöglich, ich habe noch nie gesehen, dass Charles sich für ein Mädchen interessiert. Ich dachte immer, er könnte ein...“
„Halt die Klappe!“
Johns Kopf dröhnte von dem Lärm. Er warf der Gruppe einen wütenden Blick zu, sein Schrei brachte sie zum Schweigen.
Frustriert fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und traf auf Charles' tiefe, unergründliche Augen, was ihn mit einer unerklärlichen Frustration erfüllte.
Er kannte Charles zu gut. Je ruhiger Charles war, desto beängstigender wurde er.
Charles sprach schließlich wieder. „Ich habe nur gefragt.“
„Gut.“
John knurrte seine Antwort, sein Ton war scharf genug, um zu schneiden.
„Olivia geht auf unsere Schule! Celestial University! Zufrieden?“
Er trat näher, seine Stimme schwer von Warnung.
„Charles, lass mich klarstellen! Du solltest besser nur neugierig sein!“
„Olivia ist die Tochter der Frau, die mein Vater geheiratet hat. Sie nervt mich schon durch ihre bloße Existenz! Wenn du mich als Freund betrachtest, halte dich von ihr fern und lass mich in Ruhe!“
Charles antwortete nicht auf Johns Ausbruch, er nickte nur leicht.
Sein Blick wanderte zur Tür, durch die Olivia verschwunden war, und etwas Flüchtiges und Unergründliches blitzte in seinen Augen auf.
„Verstanden.“
Seine Stimme blieb ruhig, als er sich umdrehte und hinausging, als wäre seine frühere Frage nur ein flüchtiger Gedanke gewesen.
Aber John konnte sich nicht beruhigen; die Wut in ihm kochte über.
Verdammt, alle waren darauf aus, ihn zu ärgern!
Es war nach elf, als John, nach Rauch und Alkohol riechend, die Haustür aufstieß.
Das Wohnzimmer war nur von einer einzelnen Lampe schwach beleuchtet. Olivia kam gerade mit einem Glas Milch aus der Küche, auf dem Weg zu ihrem Zimmer, ihr Handy in der Hand, das Licht des Bildschirms spiegelte sich auf ihrem ausdruckslosen Gesicht.
„Bleib stehen!“
Johns Stimme durchschnitt die Stille, leise aber klar.
Olivia hielt nicht einmal inne, als hätte sie ihn nicht gehört.
Ihre Missachtung entfachte Johns Wut.
Er stürmte herüber, seine imposante Gestalt blockierte ihre Tür, sein Ton aggressiv.
„Olivia! Was zum Teufel war das heute Nachmittag? Mich vor allen Leuten anzuschreien? Für wen hältst du dich?“
Olivia sah ihn endlich an.
Ihre sonst so schüchternen Augen waren jetzt kalt und scharf, wie Eis.
Sie reflektierten das schwache Licht und Johns wütend verzerrtes Gesicht.
Es gab keine Angst, nur eine seltsame, durchdringende Ruhe, die John nicht erkannte.
„Ich? Verrückt geworden?“
Ihre Stimme war leise, aber klar, und trug eine kalte Entschlossenheit.
„John, nur weil ich in deinem Haus lebe, muss ich mich wie ein Hund benehmen, um Brocken betteln, die andere Wange hinhalten, wenn ich geschlagen werde?“
„Meine Mutter und dein Vater sind legal verheiratet!“
John war für einen Moment von ihren Worten und ihrem Blick überrascht, dann flammte seine Wut noch heißer auf.
„Erzähl mir keinen Mist! Wenn du unter dem Dach eines anderen lebst, solltest du dich auch so benehmen!“
Olivia stieß ein leises, spöttisches Lachen aus, der Klang wie Nadeln.
"Mach dir keine Sorgen, du musst mich nicht rauswerfen. Nächsten Montag fange ich einen Job im neuen Blumenladen in der Nähe der Schule an."
"Ich werde mein eigenes Geld verdienen, und sobald ich genug habe, ziehe ich aus."
"Ich bin nicht wie du, der sich auf das Geld und das Haus deines Vaters verlässt, um sich stark zu fühlen, nicht anders als diese nutzlosen reichen Kinder da draußen!"
"Sag das noch einmal!"
John stieß einen Finger in Olivias Richtung, die Adern auf seiner Stirn traten hervor, seine Stimme war heiser vor Wut.
"Genug!"
Eine scharfe Stimme durchbrach plötzlich die Spannung.
Olivias Mutter, Indigo, eilte die Treppe hinunter, ihr Gesicht voller Sorge und Angst.
Sie sah Olivia nicht einmal an, sondern eilte direkt an Johns Seite, streckte die Hand nach ihm aus, ihre Stimme zitterte.
"John! John! Sei nicht wütend! Olivia weiß es nicht besser; sie redet nur Unsinn!"
Sie klopfte John hektisch auf den Rücken, als würde sie ein verängstigtes Kind beruhigen.
"Ich entschuldige mich in ihrem Namen! Bitte, beruhige dich!"
Fast gleichzeitig trat Johns Vater, Theo Williams, aus seinem Arbeitszimmer, sein Gesicht war dunkel.
Sein strenger Blick schweifte über die angespannte Szene und blieb schließlich mit unbestreitbarer Autorität auf John haften.
"John! Nimm die Hand runter! Was glaubst du, was du da tust? Entschuldige dich bei Olivia!"
"Entschuldigen?"
John schüttelte Indigos Hand ab, wie eine brennende Lunte, die kurz vor der Explosion stand. Er zeigte auf Olivia und schrie Theo an.
"Dad! Schau sie dir an! Sie hat angefangen!"
"Solange sie hier ist, werde ich niemals Frieden haben!"
Seine blutunterlaufenen Augen funkelten Olivia an, jedes Wort triefte vor Hass und Endgültigkeit.
"Na schön! Du denkst, du bist stark? Du willst unabhängig sein? Dann hau ab!"
"Brich die Schule ab! Verlass dieses Haus! Verschwinde aus meinem Blickfeld! Ich will dein Gesicht nie wieder sehen!"
Die Worte trafen Olivia wie ein Vorschlaghammer.
Sie schwankte, sah Johns hasserfülltes Gesicht ungläubig an.
Indigo wurde blass, wollte etwas sagen, brachte es aber nicht über die Lippen und griff instinktiv wieder nach Johns Arm.
"Die Schule abbrechen?"
Olivias Stimme war eisig, scharf mit einem Hauch von Verzweiflung.
"John, wer glaubst du, dass du bist? Du denkst, du kannst einfach jemanden rauswerfen?"
Sie wandte sich an Indigo, ihre Augen waren voller Enttäuschung und Trauer.
"Mama, hast du das gehört? Das ist die Person, mit der du mir gesagt hast, ich solle mich 'vertragen'!"
"Das ist das 'gute Leben', für das ich aushalten soll!"
"Alle, haltet den Mund!"
Theo schlug mit der Hand auf den Tisch, das laute Knallen ließ den Kronleuchter erzittern.
Seine Brust hob sich vor Wut, seine Augen waren scharf, als er die chaotische Szene überblickte.
"John! Sag 'Schule abbrechen' noch einmal! Dieses Haus gehört nicht dir!"
Er atmete tief durch, zwang seine Wut hinunter, seine Stimme war leise, aber befehlend.
"Jetzt, alle, geht in eure Zimmer! Wir reden, wenn wir uns beruhigt haben!"
Stille kehrte ein.
Johns Brust hob sich, seine Augen brannten vor Hass, als er Olivia anstarrte.
Er drehte sich abrupt um, wie ein wütender Löwe, und stürmte die Treppe hinauf.
Ein donnerndes Krachen hallte wider, als John seine Zimmertür mit aller Kraft zuschlug.
Das Geräusch hallte durch das leere Wohnzimmer und lingerte noch lange nach.































































































