Kapitel 6
„Sind Sie verletzt?“ Michael öffnete die Augen und schaute zu ihr hinüber.
Emily hielt sich den Arm, konnte Michaels prüfenden Blick jedoch nicht verbergen.
Der Stoff ihrer Bluse war bereits mit Blut durchtränkt.
„Sie kommen mit mir ins Krankenhaus“, erklärte Michael. Es war keine Bitte, sondern ein Befehl.
Emily wollte ablehnen. Diese kleine Wunde würde in ein paar Tagen mit Ruhe heilen. Ein Krankenhausbesuch war nicht nötig.
Michael bemerkte ihr Zögern. „Wir lassen auch gleich Ihren Magen untersuchen.“
„Aber...“
„Sie müssen doch weiterarbeiten, um Geld zu verdienen, oder? Wenn Ihr Magen schlimmer wird, verlieren Sie am Ende noch mehr.“
Das ergab Sinn. Emily nickte. „Dann... danke, Herr Wilson.“
Plötzlich schaute Emily auf. „Wo sind Sie verletzt, Herr Wilson? War es, als das Auto Sie getroffen hat?“
Sie erinnerte sich, dass sie vorhin Blut an seinem Mundwinkel gesehen hatte.
Doch der Mann vor ihr wirkte vollkommen gefasst, sein Hemdkragen tadellos.
Sein ganzes Auftreten strahlte Autorität und Kontrolle aus, keinerlei Anzeichen einer Verletzung.
Michael gab eine ausweichende Antwort. „Innere Verletzungen.“
Das Auto fiel wieder in eine unheimliche Stille.
Emily sprach schließlich die Frage aus, die sie zurückgehalten hatte. „Herr Wilson, diese Männer heute... sie waren nicht Ihr Ziel, oder?“
„Was denken Sie?“ Michael spielte mit einem Jade-Ring an seinem Finger, sein Ausdruck undurchschaubar.
Emily fasste ihren Mut zusammen. „Es war der Mann mit der Narbe im Gesicht.“
Michaels Augen blitzten anerkennend auf, als er sie ansah. „Richtig.“
„Es war eine Falle, um ihn hervorzulocken. Ich hatte geplant, ihn schnell zur Flucht zu zwingen.“
„Aber ich hatte nicht mit der doppelten Anzahl Männer gerechnet. Ihr Metallrohr war sehr nützlich.“
Emily verstand jetzt.
Ihre hellen Augen füllten sich mit Spekulation. „Also... es waren keine Kugeln in der Waffe, oder?“
Wenn es welche gegeben hätte, hätte Michael sich nicht auf den Nahkampf einlassen müssen.
Michael nickte. „Auf sie zu schießen wäre Verschwendung gewesen.“
Er sagte dies, ohne aufzusehen, seine tief verwurzelte Gelassenheit bestätigte Emilys Verdacht. „Herr Wilson, eigentlich, als ich Sie heute zum Abendessen eingeladen habe, ich...“
Emily erinnerte sich plötzlich an die frisch gereinigte Jacke, die sie im Restaurant zurückgelassen hatte. Ihr Gesichtsausdruck trübte sich vor Enttäuschung.
Als Michael ihren bekümmerten Ausdruck sah, konnte er sich ein leises Amüsement nicht verkneifen. „Wir sind im Krankenhaus angekommen. Gehen wir.“
Das Krankenhaus, das Michael ausgesucht hatte, war natürlich eine VIP-Einrichtung, mit einer ganzen Etage für exklusive Pflege.
Emily folgte ihm Schritt für Schritt durch den Untersuchungsprozess.
Die Diagnose schockierte sie beide.
„Frau Harrison, Ihre Magenschleimhaut blutet. Sie müssen zur Beobachtung ins Krankenhaus.“
Emily hatte nicht gewusst, dass ihr Zustand so ernst war.
Sie runzelte die Stirn und erkannte, dass dies eine weitere Ausgabe bedeutete.
Aber sie hatte keine Wahl. Wenn ihre Gesundheit völlig zusammenbrach, wer würde sich dann um ihre Mutter kümmern?
Das war teilweise der Grund, warum sie Krankenhäuser bisher gemieden hatte.
Michaels Zustand stellte sich als noch schwerwiegender heraus.
„Die Erstuntersuchung zeigt Prellungen der inneren Organe. Obwohl die äußeren Wunden nicht ernst sind, besteht das Risiko innerer Blutungen. Sie benötigen mindestens eine Woche Krankenhausbeobachtung mit völliger Ruhe – keine anstrengenden Aktivitäten.“
Michael hörte sich die Diagnose des Arztes an, ohne eine Miene zu verziehen. Er gab einfach seinem Assistenten Anweisungen: „Organisieren Sie die Einweisung.“
Der Assistent warf einen Blick auf den Untersuchungsbericht und fragte leise: „Frau Harrison benötigt auch eine Krankenhausbeobachtung. Sollen wir dasselbe Zimmer arrangieren?“
Michaels Blick schweifte über Emilys blutbefleckten Ärmel, erinnerte sich an ihre zitternde, aber entschlossene Gestalt in der Gasse. Seine Finger strichen über den Ring. „Ihre Entscheidung.“
Die Antwort war mehrdeutig, aber der Assistent verstand sofort. „Der VIP-Bereich hat ein freies Doppelzimmer.“
Er traf bereits Vorkehrungen auf seinem Telefon.
Emily hörte „Doppelzimmer“ und schaute schnell auf. „Herr Wilson, ein normales Zimmer wäre...“
„Diese Etage hat ihre eigene Sicherheit“, unterbrach Michael, seine Stimme kalt und unnachgiebig. „Die Angreifer von heute könnten Komplizen haben.“
Emily verstummte, ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Die Assistentin fügte rechtzeitig hinzu: „Ms. Harrison, machen Sie sich keine Sorgen. Die Doppelzimmerbelegung verursacht keine zusätzlichen Kosten.“
Das war bestenfalls halb wahr, aber genug, um die junge Frau dazu zu bringen, ihre Lippe loszulassen, die sie vor Angst gebissen hatte.
Als die Krankenschwester mit einem Rollstuhl kam, ging Michael bereits auf den Aufzug zu. Seine Haltung war so gerade wie ein Kiefernbaum, aber die Hand, die den Türrahmen des Aufzugs umklammerte, zeigte hervortretende Adern – das einzige Zeichen seines intensiven Schmerzes.
Emily starrte auf seine weißgewordenen Knöchel und erinnerte sich plötzlich an den metallischen Geruch von Blut, den sie wahrgenommen hatte, als er sie beschützte. Seine Verletzungen mussten also so schwerwiegend sein, und dennoch hatte er keinen einzigen Laut des Unbehagens von sich gegeben.
Im Krankenzimmer zog Emily ein Patientenkleid an und legte sich mit einer Infusion ins Bett.
Sie schlief ein.
Als sie aufwachte, hörte sie Stimmen vor der Tür.
„Was machst du hier? Geh nach Hause.“
Es war Michaels Stimme.
Emily öffnete sofort die Augen und spitzte die Ohren.
Sie schlich zur Tür und spähte durch das kleine Fenster.
„Michael, wir werden bald heiraten. Warum sprichst du immer so schroff mit mir?“ Eine Frauenstimme, erfüllt von Schmerz und Vorwurf.
„Nenn mich nicht so.“ Michaels Stimme klang voller Abscheu.
Als die Frau den Kopf drehte, konnte Emily sie klar erkennen.
Sie trug ein mintgrünes Kleid, ihre mandelförmigen Augen glänzten von unterdrückten Tränen.
Also das war Caitlin – Michaels Verlobte.
Caitlin stellte etwas auf einen Stuhl draußen. „Michael, sei nicht böse. Als ich hörte, dass du verletzt wurdest, bin ich sofort hergekommen, um mich um dich zu kümmern. Das ist eine nahrhafte Suppe – bitte trink etwas davon, ja?“
„Du kannst die Suppe hierlassen. Die Pflege ist nicht nötig.“ Michaels Ton blieb distanziert, und Caitlin schien wirklich verletzt.
„Michael, als mein Vater von deinem Unfall hörte, wollte er auch ins Krankenhaus kommen.“ Caitlin beobachtete Michaels Gesichtsausdruck genau, bevor sie fortfuhr, „Er hat sich in letzter Zeit so viele Sorgen gemacht, konnte weder essen noch schlafen – es geht um dieses Projekt...“
Das Projekt hatte kein Geld mehr, und die Rand Corporation hatte nicht genug Kapital.
Aber wenn Michael ein Wort sagen würde, wären alle Probleme gelöst – das Projekt würde ohne Schwierigkeiten der Rand Corporation gehören.
Als Caitlin hörte, dass Michael im Krankenhaus war, brachte sie sofort eine Thermoskanne mit Suppe.
Sie hatte geplant, sich um ihn zu kümmern und dann vorsichtig die finanzielle Situation anzusprechen.
Aber Michael blieb so kalt wie immer und wollte sie offensichtlich nicht da haben. „Geschäftliches gehört ins Büro.“
„Du behauptest, dir Sorgen um meine Verletzungen zu machen, und stehst hier und redest über Arbeit?“ Michaels Stimme triefte vor Sarkasmus.
Caitlins Herz setzte einen Schlag aus.
Als sie Michaels noch kälteren Ausdruck sah, verspürte sie einen Anflug von Angst.
Trotzdem versuchte sie es noch einmal: „Michael, du weißt, dass ich nicht so bin. In meinem Herzen...“
Michael hatte keine Geduld für ihre Erklärungen. „Nimm die Thermoskanne mit.“
Caitlin biss sich auf die Lippe und sah Michael frustriert an.
Schließlich nahm sie die Thermoskanne und ging, ihr verletzter Stolz war in ihrem Gang deutlich zu erkennen.
Michael bereitete sich darauf vor, das Krankenzimmer zu betreten.
Emily huschte zurück ins Bett und schloss die Augen.
Sie hatte gerade ein ziemliches Drama miterlebt – am besten tat sie so, als hätte sie nichts gehört.
Michael legte sich auf das benachbarte Bett.
In dem Glauben, dass Emily schlief, stieß er endlich einen schmerzhaften Seufzer aus.
Mit geschlossenen Augen dachte Emily bei sich: ‚Von einem Jeep so hart getroffen zu werden – selbst wenn er dem Schlimmsten ausgewichen ist – muss unerträglich sein.‘
Michael war schließlich nicht aus Stahl.
„Hör auf, so zu tun, als würdest du schlafen.“ Gerade als Emily in Gedanken versunken war, durchbrach eine Stimme die Stille und ließ ihr die Haare zu Berge stehen.
„Mr... Mr. Wilson...“































































































