Kapitel 3: Wurzeln und Geister
Isla konnte sich nicht daran erinnern, das Café verlassen zu haben. Einen Moment lang hatte sie Jonas angestarrt, die Lilie zwischen ihnen, das Echo von Ellies schüchterner Stimme, das zwischen dem Klappern der Tassen und dem Duft von warmem Zimt hing. Im nächsten Moment war sie draußen, ihre Stiefel klatschten auf den nassen Gehweg, als sie die Main Street überquerte und auf die alte Eiche zuging.
Die Gestalt war verschwunden, als sie dort ankam – wenn überhaupt jemals jemand dort gewesen war. Doch unter den Baumwurzeln, eingebettet in die feuchten Blätter, lag eine weitere Lilie. Frisch. Perfekt. Ein scharlachrotes Band war so fest um ihren Stiel gebunden, dass sie sich fragte, ob die Blume überhaupt atmen konnte.
Sie hockte sich hin und strich mit dem Daumen über die Blütenblätter. Kalt. Zu kalt für einen Sommermorgen. Sie richtete sich auf, das Herz schlug so heftig, dass sie es in ihren Zähnen spürte. Das war nicht nur ein Streich. Jemand wusste, dass sie hier war – jemand, der sich an alles erinnerte, was sie zu vergessen versucht hatte.
Als sie sich umdrehte, stand Jonas mitten auf der Straße, die Hände in den Jackentaschen, Sorge deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Er rief nicht ihren Namen, sondern beobachtete sie nur, wie er es immer getan hatte – als würde er darauf warten, dass sie entschied, ob sie ihn hereinlassen oder wieder ausschließen würde.
Zurück im Haus hielt Isla kaum am Tor an. Sie drängte sich durch den überwucherten Pfad, die wilden Lilien streiften ihre Jeans wie alte Freunde, die sie nicht begrüßen wollte. Die Haustür schlug hinter ihr zu. Diesmal schloss sie ab. Zweimal.
Sie stellte die neue Lilie auf den Kaminsims neben die ersten beiden. Drei weiße Blüten, die wie Vorwürfe aufgereiht waren. Sie hasste, wie schön sie aussahen. Wie lebendig.
Oben widerstand die Schlafzimmertür ihrem Stoß, als wollte der Raum selbst sie vertreiben. Seit sie achtzehn war, hatte sie dort nicht mehr geschlafen – seit der Nacht, in der Ruth sie weinend über einem College-Ablehnungsbrief gefunden hatte, den sie nie den Mut gehabt hatte, Jonas zu schicken. Trotzdem stieß sie die Tür auf. Staub tanzte im Sonnenstrahl, der durch die Spitzenvorhänge fiel. Ihre alte Kommode. Der Schminktisch, immer noch übersät mit billigen Parfümflaschen und einer zerbrochenen Haarbürste. Die Decke, die Ruth ihr zur Highschool-Abschlussfeier gemacht hatte, lag über dem Bett wie ein Versprechen, das sie nie gehalten hatte.
Sie setzte sich auf die Bettkante und fuhr mit dem Finger über die Stickerei. Lilien, natürlich – Ruth hatte überall Lilien gestickt. Kissen. Servietten. Taschentücher. Hartnäckige Dinge, würde Ruth sagen, während sie ihre Finger in die Erde drückte. Sie finden einen Weg, zu blühen, selbst wenn du sie vergisst.
Das Dielenbrett unter dem Fenster knarrte. Isla blickte hinunter und runzelte die Stirn. Da – eine Ecke von etwas ragte aus dem Spalt zwischen zwei Brettern hervor. Sie ließ sich auf die Knie sinken und löste es mit dem Fingernagel. Ein gefaltetes Stück Papier, vergilbt und weich an den Knicken. Ihr Name war in Ruths sorgfältiger Handschrift auf die Vorderseite geschrieben.
Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und öffnete es. Das Papier roch schwach nach Lavendel und altem Holz.
Meine Isla, begann es. Wenn du das findest, bist du dorthin zurückgekehrt, wo du hingehörst. Flieh nicht vor dem Garten. Er erinnert sich an alles, was wir pflanzen, selbst an das, was wir vergraben. Manche Wurzeln gehen tiefer als der Schmerz. Manche Samen warten auf die richtigen Hände. Vergib mir, was ich dir verschwiegen habe. Vergib auch ihm. Du wirst wissen, was zu tun ist, wenn die Lilien blühen. – Ruth
Isla drückte den Brief an ihre Brust. Die Worte fühlten sich gleichzeitig wie ein Gewicht und ein Schlüssel an. Vergib ihm. Jonas. Ruth hatte es gewusst. Sie wusste es immer.
Ein Klopfen ließ sie aufschrecken. Nicht die Haustür – die Hintertür. Sie schob den Brief in ihre Tasche und eilte die Treppe hinunter, das Herz stolperte. Durch das gesprungene Fenster neben der Hinterveranda spähte sie hinaus. Jonas stand dort, mit schlammigen Stiefeln und einem Bündel verhedderter Unkraut unter einem Arm.
Sie öffnete die Tür gerade so weit, dass sie ihn vollständig sehen konnte. „Du bist mir gefolgt.“
„Du bist weggelaufen, als hättest du einen Geist gesehen“, sagte er, die Stimme ruhig, aber mit einem härteren Unterton. „Hast du das?“
Sie trat zur Seite, ließ ihn herein, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“
Jonas legte das Unkraut auf die Arbeitsplatte, Erde verstreute sich auf den alten Fliesen. Er blickte auf die Lilien auf dem Kaminsims, sein Mund verzog sich. „Du sammelst sie jetzt?“
„Sie finden mich immer wieder“, schnappte Isla. Sie hasste es, wie ihre Stimme zitterte.
Er zuckte nicht zusammen. Er bewegte sich einfach näher, lehnte eine Hüfte gegen die Arbeitsplatte, die Arme verschränkt. „Du denkst, ich lasse sie hier.“
„Tust du das nicht?“ forderte sie. „Ist das nicht dein Spiel, Jonas? Kleine Erinnerungen? Versuchst du, mich zurück in etwas zu ziehen, das wir vor langer Zeit begraben haben?“
Jonas stieß sich so schnell von der Arbeitsplatte ab, dass sie einen Schritt zurücktrat. Er berührte sie nicht, aber seine Augen hielten sie fest. „Isla, ich würde dir jeden Tag Lilien schenken, wenn ich dachte, sie würden dich hier halten. Aber ich bin nicht derjenige, der sie mitten in der Nacht auf deine Veranda legt.“
Seine Ehrlichkeit nahm ihr den Atem. Sie wollte ihm glauben. Ein Teil von ihr tat es. Ein Teil von ihr tat es immer.
„Wer dann?“ flüsterte sie.
Jonas fuhr sich mit der Hand durch das Haar und hinterließ einen Schmutzfleck an seiner Schläfe. „Ich weiß es nicht. Vielleicht niemand. Vielleicht will das Haus, dass du bleibst.“
Sie musste fast lachen. „Das Haus?“
Er zuckte mit den Schultern. „Oder Ruth. Sie hatte ihre Wege.“
Isla zog den Brief aus ihrer Tasche und hielt ihn ihm hin. „Sie hat diesen hinterlassen. Sie wusste etwas. ‚Manche Wurzeln gehen tiefer als Trauer‘ – was bedeutet das, Jonas?“
Er las die Notiz, der Mund bewegte sich lautlos. Als er ihr wieder in die Augen sah, hatte sich etwas in seinen verändert. Eine Tür öffnete sich. „Sie sprach über den Garten.“
Isla schüttelte den Kopf. „Was ist damit? Es sind nur Unkraut und Lilien.“
„Nicht nur Lilien“, sagte er. Er griff nach ihrer Hand und zog sie zur Hintertür. „Komm.“
„Jonas“
„Vertrau mir.“
Der Garten roch nach feuchter Erde und regennassen Blüten. Jonas führte sie am alten Spalier vorbei, durch Brombeersträucher, die sich an ihre Jeans klammerten. Er fiel auf die Knie nahe dem Zaun, die Finger gruben sich in den weichen Boden.
„Hier“, sagte er atemlos. „Hilf mir.“
Sie gruben mit bloßen Händen, zogen Unkraut beiseite, kratzten durch feuchte Erde. Unter dem Gewirr waren die Lilien dichter, sie bildeten einen wilden Ring um ein Stück Erde, das zu glatt, zu kürzlich umgegraben aussah.
Islas Atem stockte. „Was ist das?“
Jonas wischte mehr Erde weg und enthüllte eine Ecke von etwas Hellem – kein Stein, keine Wurzel. Etwas in Plastik eingewickelt.
Ein plötzlicher Windstoß raschelte durch die Lilien. Ein Schauer jagte Isla den Rücken hinauf. Sie drehte den Kopf, sicher, dass sie Schritte auf dem Weg gehört hatte.
„Jonas“, flüsterte sie, die Stimme dünn. „Jemand beobachtet uns.“
Er hörte nicht auf zu graben. „Lass sie.“
Das Plastik verschob sich unter seinen Fingern – eine alte Blechdose, deren Deckel verrostet war. Er öffnete sie. Darin glitzerte etwas unter der Erde – Metall, alt und scharfkantig. Ein Medaillon. Ein Schlüssel. Und ein gefaltetes Stück Papier, dunkel von Jahren voller Geheimnisse.
Bevor Isla danach greifen konnte, öffnete sich das Gartentor hinter ihnen knarrend.
Sie erstarrten, Erde unter ihren Nägeln, der Atem hing in der Stille zwischen Lilien und Geheimnissen.
Eine Stimme driftete durch die Dämmerung. Sanft. Unbekannt.
„Du hättest nicht zurückkommen sollen, Isla.“































































































































































































