Kapitel 4: Unter den Wurzeln
Isla erstarrte, wo sie kniete, Erde unter ihren Nägeln und die Blechdose kalt gegen ihre Handflächen. Jonas war so nah, dass sie das Zittern seines Atems spüren konnte, obwohl seine Schultern sie vor der Gestalt am Gartentor abschirmten.
Der Mond verschwand hinter einer Wolke und tauchte den Garten in sanfte Dunkelheit. Sie hörte, wie die Klinke am Tor einmal, zweimal klapperte. Wer auch immer dort war, drückte nicht durch. Sie standen einfach nur da – beobachtend.
Jonas' Stimme war leise, aber scharf genug, um die Stille zu durchbrechen. „Wer ist da?“
Stille. Dann eine Stimme, die sich wie ein stumpfes Messer an Islas Knochen entlang schabte. „Manche Dinge sollten begraben bleiben, Isla.“
Ihr Magen zog sich zusammen. Sie kannte diese Stimme – Mr. Rayburn. Der alte Nachbar ihrer Großmutter, der mit den wilden weißen Haaren und dem Blick, der ihre Haut kribbeln ließ, als sie klein war.
Sie fand ihre Stimme, dünn aber fest. „Mr. Rayburn? Was machen Sie hier?“
Er trat gerade so weit vor, dass der Schatten des Tors über sein faltiges Gesicht fiel. Seine Augen glänzten wie Murmeln im schwachen Sternenlicht. „Dasselbe wie immer. Versuchen, die Toten daran zu hindern, aufzuwachen.“
Jonas rückte näher an Isla heran. Seine Hand schwebte in der Nähe ihrer, bereit. „Sie wissen, was in dieser Dose ist, oder?“
Rayburns Mund verzog sich. Er spuckte ins Unkraut. „Ruth hat versprochen, es mit ins Grab zu nehmen. Ich dachte, ihr hättet genug Verstand, sie das tun zu lassen.“
Islas Herz schlug so laut, dass sie kaum den Wind in den Apfelbäumen hören konnte. „Was ist es, Mr. Rayburn? Was hat Ruth hier vergraben?“
Die Augen des alten Mannes wanderten zu den Lilien neben ihren Knien. Ihre blassen Blütenblätter leuchteten wie gespenstische Laternen unter dem unruhigen Mond. „Wahrheit“, krächzte er. „Verrottete Wahrheit, in Blumen gekleidet.“
Bevor Jonas weiter nachhaken konnte, trat Rayburn zurück. Die Klinke klapperte erneut – dann verschluckte der Garten seine Gestalt. Einfach so war er verschwunden. Kein Rascheln der Blätter. Kein Abschied. Nur leere Schatten, wo er gestanden hatte.
Jonas atmete rau und tief aus. „Na super. Das ist beruhigend.“
Isla blickte auf die Dose in ihrem Schoß. Ihre Finger juckten, sie zu öffnen, aber ihr Puls warnte sie, dass nichts mehr so sein würde wie vorher, sobald sie es tat. Trotzdem hob sie den Deckel an.
Drinnen, eingebettet in ein Stück von Ruths Lieblingstuch, lag ein kleiner Eisenschlüssel. Alt, verrostet, aber schwer in ihrer Hand. Daneben, so fest gefaltet, dass es fast quadratisch war, lag ein Zettel.
Jonas beugte sich über ihre Schulter. Sein Atem roch nach Kaffee und Erde. „Was steht da?“
Isla entfaltete ihn langsam, das Papier war weich vor Alter, aber ungebrochen. Ruths vertraute schräge Schrift zog sich über die Seite:
Wenn du das gefunden hast, bist du bereit. Das Tor beim Obstgarten. Öffne es. Was vergraben ist, braucht seine Wurzeln zurück.
Isla las es zweimal. Das Obstgartentor. Sie kannte es – versteckt hinter den alten Apfelreihen, seit sie klein genug war, um durch die Stäbe zu schlüpfen, mit einer Kette verschlossen. Ruths Regel war eisern gewesen: Öffne dieses Tor niemals. Frag niemals warum.
Sie konnte immer noch die Stimme ihrer Großmutter in ihrem Kopf hören – sanft, aber endgültig. Manche Dinge bleiben verschlossen, um dich zu schützen, Isla.
Jonas berührte den Schlüssel in ihrer Hand. „Willst du sehen, was dort ist?“
Sie schüttelte den Kopf, bevor sie sich selbst aufhalten konnte – aber ihre Hände erzählten eine andere Wahrheit, indem sie sich fest um das Eisen schlossen. „Ja“, flüsterte sie. „Ich glaube, ich muss.“
Sie sprachen nicht mehr, als sie aufstanden. Jonas bürstete den Schmutz von seinen Jeans, während Isla die Schachtel wie einen Talisman unter ihren Arm klemmte. Der Garten schien sich zu neigen, während sie gingen – die Äste knarrten, die Lilien nickten im Wind, als wollten sie sie vorantreiben.
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Das Tor zum Obstgarten war immer noch an seinem Platz – verborgen hinter einem Vorhang aus wilden Brombeersträuchern und einem zerbrochenen Steinweg, den Ruth vor Jahren aufgehört hatte zu pflegen. Der Mond brach wieder hervor, als sie es erreichten, und warf kaltes Silber auf die mit Efeu umwachsenen Eisenstangen.
Isla erinnerte sich daran, als Kind ihr Gesicht an dieses Tor gedrückt zu haben, um durch die Blätter zu spähen und zu sehen, was dahinter lag. Damals sah es einfach nach mehr Bäumen aus. Jetzt fühlte es sich an wie ein Schloss an einer Tür, die immer darauf gewartet hatte, dass sie den richtigen Schlüssel fand.
Jonas schob die Ranken beiseite. „Isla“, murmelte er und nickte zu der schweren Kette, die durch die Stangen geschlungen war. Das Vorhängeschloss hing dort, von Rost zerfressen, aber ungebrochen.
Sie hielt ihm den Eisenschlüssel hin. Jonas nahm ihn, das kalte Metall streifte seine Knöchel. Seine Hände zitterten leicht, gerade genug, dass sie es bemerkte – das einzige Zeichen, dass er genauso aufgewühlt war wie sie.
Er setzte den Schlüssel ins Schloss. Einen Moment lang geschah nichts. Dann drehte es sich – steif, aber gehorsam – und die Kette klapperte frei, fiel mit einem letzten, schweren Geräusch zu Boden.
Isla griff nach dem Tor. Ihre Handfläche traf kaltes Eisen, glatt von Nachttau. Sie zögerte.
Jonas berührte ihr Handgelenk. „Hey.“ Seine Stimme war sanft, aber zog sie vom Rand zurück. „Was auch immer hier hinter ist – wir stellen uns dem zusammen.“
Sie atmete aus, ohne zu wissen, dass sie den Atem angehalten hatte. „Du hast mir immer für immer versprochen.“
Ein Hauch eines Lächelns spielte um seinen Mund. „Vielleicht bekommen wir es diesmal wirklich.“
Sie stieß das Tor auf. Es schwang mit einem Ächzen auf, wie das Seufzen eines alten Mannes.
Dahinter lag der Obstgarten tiefer als in ihrer Erinnerung. Bäume standen in Reihen wie krumme Wächter, Mondlicht schlüpfte durch verdrehte Äste. Ein Weg, schwach, aber real, schlängelte sich zwischen den Stämmen hindurch und verschwand in Schatten, die zu atmen schienen.
Isla trat als Erste hindurch. Jonas folgte, das Tor knarrte hinter ihnen zu – nicht verschlossen, aber das Geräusch ließ sie trotzdem frösteln.
Sie bewegten sich langsam, die Stiefel sanken in feuchte Erde. Der Obstgarten roch nach alten Äpfeln und kalter Erde, die Luft war scharf genug, um sie zu schmecken.
Auf halbem Weg den Pfad hinunter blieb Jonas stehen und zeigte. Am Fuß des größten Baumes – ein knorriger alter Apfelbaum, der mehr nach Knochen als nach Rinde aussah – leuchtete etwas Helles gegen die Wurzeln. Wieder Lilien, die dort blühten, wo sie nicht sollten, ihre Blütenblätter weich wie Geheimnisse.
Isla kniete nieder und bürstete den Schmutz beiseite. Ihre Finger stießen auf Holz. Eine weitere Schachtel. Kleiner als die Blechschachtel, aber mit einem Muster geschnitzt, das sie auswendig kannte – dieselben Lilien, die in Ruths Küchentisch eingraviert waren.
Jonas kniete sich neben sie. „Soll ich—?“
„Nein“, sagte sie, ihre Stimme jetzt fest. „Diese hier gehört mir.“
Sie grub die Schachtel frei, Erde rieselte durch ihre Finger. Das Schloss daran war winzig – passend zu dem Eisenschlüssel, den sie immer noch hielt.
Isla steckte den Schlüssel hinein. Drehte ihn. Spürte das Klicken, das durch ihre Rippen hallte.
Jonas lehnte sich so nah heran, dass sie seinen Herzschlag im Takt mit ihrem fühlen konnte.
Isla hob den Deckel.
Drinnen wartete die Wahrheit – klein genug, um sie in ihren Händen zu halten, aber groß genug, um alles zu verändern.































































































































































































