KAPITEL 5 : Jetzt sehen wir uns wieder

Der kleine Drache schwebte vor Dolores in der Luft, neigte den Kopf zur Seite und stieß ein unzufriedenes Zwitschern aus. Kopfschüttelnd ließ er sich auf Dolores' Knie nieder und deutete auf die Mondblume, als wolle er etwas beweisen.

"Ich weiß, ich weiß," sagte Dolores sanft und streichelte den kleinen Drachen auf dem Kopf. Obwohl Dolores die geriffelten Kanten der Schuppen spüren konnte, dachte sie, sie würde sich etwas einbilden.

In diesem Gedanken kniff Dolores die durchscheinenden Flügel des kleinen Drachen. Die glatte, ledrige Textur fühlte sich echt an, obwohl sie mit einem Nagel über die Membran kratzte. Der winzige Drache stieß einen kleinen, verärgerten Schrei aus.

"Entschuldigung! Das war unhöflich, aber weißt du, die Leute sagen mir immer, Drachen seien nicht real." Dolores hörte auf, seinen fledermausartigen Flügel zu kneifen, und zog ihn sanft an sich, wie man es mit einer Hauskatze tun würde. "Sie sagen, Drachen waren früher auf unserem Kontinent weit verbreitet, aber dann gierten die Menschen nach Macht und jagten sie, bis sie ausgerottet waren." Sie murmelte, während sie den winzigen Drachen, der sich in ihrem Schoß zusammengerollt hatte, gedankenverloren streichelte.

Er zwitscherte als Antwort, was Dolores dazu brachte, ihm in die Augen zu sehen. Sie schienen zu bitten, zu flehen. "Oh! Ich... ich werde niemandem von dir erzählen, einverstanden?" Sie kratzte hinter einem seiner spitzen Ohren. "Ich möchte nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst. Das wird unser Geheimnis sein." flüsterte Dolores, und der kleine Drache nickte zustimmend und schnurrte vor Freude. Dolores lächelte, bevor sie ihn zu ihrem Gesicht hob. "Danke," sagte sie aufrichtig und gab ihm einen sanften Kuss auf die Schnauze. "Da. Jetzt habe ich dich auch geküsst." Sie lachte, als die roten Schuppen des winzigen Drachen dunkler zu werden schienen.

Als Dolores schließlich den See verließ, um in die Hauptstadt zurückzukehren, und ihrem neuen Freund versprach, dass sie wiederkommen würde, wurde sie sofort in ihre neuen Gemächer eskortiert, wo drei Dienstmädchen sie grob badeten, ohne Rücksicht auf ihre gebrochenen Rippen. Danach wurde sie gefüttert, und das Essen war großartig, ein Brathähnchen, garniert mit bunten Kartoffeln. Nach vier Gabelbissen musste sie jedoch ins Badezimmer eilen, um den Inhalt loszuwerden. Sie war zwar hungrig, aber die Kombination aus keinem Essen und dem Leben von matschigen Haferflocken machte ein ausgezeichnetes Mahl fremd. Ihr Magen würde Zeit brauchen, um sich anzupassen.

Als Dolores schließlich auf ihr Himmelbett sank, konnte sie nicht einschlafen. Trotz der Erschöpfung, die durch ihren Körper kroch, wirbelten ihre Gedanken um dieses neue Leben, in dem sie sich wiederfand. Dolores würde Unterricht nehmen, um sich auf Adams Krönung und die Neumondzeremonie in den kommenden Tagen vorzubereiten. Sie würde lernen, wie eine Prinzessin zu gehen, zu sprechen, zu sitzen, zu stehen, zu essen und sich zu kleiden. Zum Glück war ihre Mutter in der Obhut eines Heilers, und Diana würde nun eine dauerhafte Unterkunft in der Nähe des Palastes haben.

Dolores fühlte sich seltsam, auf einer Matratze zu liegen, die Seidenlaken auf ihrer Haut und ein Kissen, das ihren Kopf stützte. Sie hatte noch nie ein Bett mit einer Matratze gehabt. Tatsächlich hatte Dolores bis zu jener Nacht noch nie auf einer Matratze geschlafen. Letzte Nacht während des Ritus war das erste Mal, dass sie auf etwas so Himmlischem schlief. Die Gedanken spielten sich in ihrem Kopf ab und lockten sie in einen tiefen Schlaf.

Die Woche verging schneller, als Dolores erwartet hatte, dank ihrer täglichen Besuche am See. Erschöpft von ihren Lektionen, wie man eine adlige Dame ist, entspannte sie sich, indem sie dem kleinen Drachen zusah, wie er wie ein Kätzchen auf dies und das sprang. Der kleine Drache schien jeden Tag auf sie zu warten, und Dolores fragte sich, ob der See sein Zuhause war. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, ob er derselbe Drache war, der ihr Leben gerettet hatte.

"Du bist nicht derjenige, der mich gerettet hat, oder?" fragte sie, wohl wissend, dass er nicht antworten konnte. "Natürlich nicht." Dolores nahm eine Handvoll Steine und warf sie hier und da, während sie zusah, wie er jedem hinterherjagte. Lächelnd dachte Dolores über das Geheimnis der Drachen nach, über den gutaussehenden Jungen, der ihr während des Ritus erschienen war. Könnte er der Sonnengott sein?

Sie dachte immer noch an ihn, dieser Junge war schließlich ihr erster Kuss, und während der vergangenen Woche, wenn die Prinzen ihre Nase vor Ekel rümpften oder die gedämpften Stimmen verstummten, wenn sie vorbeiging, erinnerte sie sich an diesen Kuss, wie er sich anfühlte, wie er schmeckte…

"Eure Hoheit." Der Ruf der Zofe unterbrach ihre Fantasie und erschreckte Dolores in einen Wirbel. Sie griff schnell nach dem winzigen Drachen, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, und steckte ihn in die Tasche ihres Rocks. "Ihr müsst euch für die Neumondzeremonie unseres Kronprinzen vorbereiten." sagte die Zofe, wobei ihr jordanischer Akzent durchklang. "Sie beginnt um sechs Uhr abends in der großen Halle."

Dolores sprang in einer sehr unladyliken Weise auf die Füße und verzog das Gesicht, als sie den Ausdruck des Missfallens auf dem Gesicht der Zofe sah.

"Ich… ich werde bald da sein. Aber könntet ihr mich für ein paar Minuten allein lassen?" fragte Dolores und klopfte den Staub von ihrem Kleid.

"Ich werde in euren Gemächern warten, Eure Hoheit." Sie machte einen kleinen Knicks, bevor sie zurück zum Palast ging.

Dolores atmete erleichtert aus und dankte der Göttin, dann schob sie ihre Hand in die Tasche ihres Rocks. "Es tut mir leid, kleiner Kerl." Sie entschuldigte sich, stellte aber fest, dass ihre Tasche leer war. Er war verschwunden.

Dolores stand auf einem kleinen Hocker in ihren Gemächern und blickte aus dem Fenster. Während sie darüber nachdachte, wie ihr kleiner Freund verschwunden sein könnte, kleideten drei Dienstmädchen sie an. "Hua..." Dolores schnappte nach Luft, als eine der Mägde an ihrem Korsett zog und es so festzog, dass Dolores gezwungen war, stramm zu stehen. "Vielleicht nicht ganz so eng," bat sie leise.

"Wie erwarten Sie, wie eine richtige Prinzessin behandelt zu werden, wenn Ihr Korsett nicht richtig sitzt?" Die Magd zog noch fester, ein scharfer Schmerz durchfuhr Dolores' Körper, sodass sie sich auf die Unterlippe biss. Eine andere Magd zog ihr das Kleid über den Kopf. Dolores weigerte sich, ihr Spiegelbild anzusehen, und entschied sich stattdessen, das Design ihres Zimmers zu betrachten.

Die Wände waren mit königlichem Purpur tapeziert, durchzogen von silbernen Wölfen. Ovale Erkerfenster am Ende des Raumes spiegelten eine gerade Wand wider, an der ihr übergroßes Bett stand.

Dolores hatte sich noch nicht an die weiche Matratze gewöhnt und war mehr als einmal auf dem Boden neben ihrem Bett aufgewacht. Sie fühlte sich fehl am Platz im Palast. Besonders als die Mägde sie in einen Stuhl zwangen und brutal ihr langes, silbrig-weißes Haar bürsteten, Strähnen in komplizierte Zöpfe flechtend.

Dolores hörte kaum zu, als die Mägde darüber plauderten, wie glücklich sie sei, wie viel Glück sie habe, jetzt eine Prinzessin zu sein. Ihre Lehrerin, eine alte Frau, hatte ihr gesagt, sie solle anfangen, dankbar zu sein. Wenn es nach ihr ginge, wäre Dolores immer noch eine Rouge, egal welches Blut in ihren Adern floss. Das war das Problem. Sie war weder gesegnet noch glücklich. Zwar mochte sie ihr Leben als Rouge nie, aber das Leben als Prinzessin, als Adlige, machte sie unruhig, und ihre neue Familie akzeptierte sie nicht als eine der ihren. Sie war immer noch eine Rouge.

Als die Mägde mit ihrer Vorbereitung fertig waren, neigten sie leicht den Kopf, bevor sie Dolores allein ließen. Sie holte tief Luft, bevor sie es wagte, einen Blick auf ihr Spiegelbild im riesigen bodenlangen Spiegel zu werfen. Dolores schnappte nach Luft, als sie ihr Gesicht sah. Noch vor einer Woche war ihr Gesicht mit Dreck bedeckt, getrocknetes Blut war über ihren Körper gesprenkelt, manchmal von ihrer Beute, aber meistens von ihr selbst. Wunden, die ihr zugefügt wurden, weil sie eine Rouge war, aber dieses Mädchen war jetzt verschwunden.

Das Mädchen, das Dolores im Spiegel sah, sah aus wie eine Prinzessin. Eine völlig andere Person als die, die sie gekannt hatte. Die Erkenntnis war schwer zu glauben. Sie war schön, mit ihren hohen, runden Wangenknochen und mandelförmigen Augen, die von leicht geschwungenen Augenbrauen begleitet wurden. Ihr eisblaues Kleid, das zu ihrer Augenfarbe passte, schmiegte sich an ihre Taille, bevor es sich zum Boden hin ausbreitete. Die beiden Träger des Kleides bedeckten nur die Oberseiten ihrer Schultern, bevor sie zu zwei Wasserfällen aus Stoff hinter ihrem Rücken wurden. Wenn er mich jetzt sehen könnte... Der Gedanke ließ sie erröten.

Die rubinroten Augen des Jungen blitzten in ihrer Erinnerung auf. Wer war er? War er überhaupt real? Die unbeantworteten Fragen verfolgten sie, schürten mehr Verwirrung und Zweifel. Träume ich noch? Bin ich immer noch im Grauschwanz-Rudel, lebe als Sklavin, und stelle mir all das vor, um mich besser zu fühlen? Ein plötzliches Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken.

"Eure Hoheit," rief eine Magd von der anderen Seite der Tür. "Ich bin hier, um Sie in den Speisesaal zu begleiten." Dolores rollte mit dem Nacken und schob die Fragen und Zweifel stillschweigend in den hinteren Teil ihres Geistes. Sie straffte die Schultern, ging ihre Lektionen der Woche durch und öffnete die Tür.

Dolores betrat den Speisesaal, begleitet von einer Schar Mägde und Diener. Die Zeremonie hatte noch nicht begonnen, und die Gäste standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Während sie den Raum absuchte, bemerkte Dolores, dass es sich bei den Gästen um Alphas der größeren Rudel des Königreichs handelte. Rudel, die alle von Zachary, ihrem Vater, und bald von Adam, ihrem Bruder, regiert wurden. Sie schluckte ihre Wut hinunter und wiederholte die richtigen Tischmanieren immer wieder in ihrem Kopf.

"Gefährte..." heulte Silvia, was Dolores schockierte. "Gefährte!" rief sie erneut, und ein seltsamer Geruch drang in Dolores' Nase. Der Duft war angenehm, eine Mischung aus grauem Amber und Adlerholz, die sie sicher und warm fühlen ließ. Dolores suchte den Raum nach ihrem sogenannten Gefährten ab und erstarrte, als sie ihn sah.

Der Junge, der Drache, der Drachenjunge, den sie in ihrem Traum während des Ritus der Morgendämmerung gesehen hatte, saß neben den eingeladenen Alphas. War er auch ein Alpha? Seine Anzugjacke war lässig über seinen Stuhl geworfen, und ein einfaches weißes T-Shirt spannte sich über seine Brust und Oberarme. Sein Körper war roh, muskulös und strahlte eine warme Ausstrahlung aus. Dolores konnte nicht anders, als ihn anzustarren, aber seine Augen. Das war es, was sie anzog. Seine bernsteinfarbenen Augen mit den scharfen Augenbrauen darüber, sie wirkten intensiv und doch freundlich.

Als ob er sie auch spüren würde, neigte er den Kopf ein wenig und hielt den Blickkontakt mit Dolores. Er schenkte ihr ein wissendes Grinsen, das eine Seite seines Gesichts in ein zärtliches, aber besitzergreifendes Lächeln verwandelte.

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