Kapitel 5 Eine unerwartete Theorie

Die Mittagssonne brannte unbarmherzig auf den Platz vor dem Haupteingang der St. Thomas Akademie. Alison hockte im Schatten einer großen Eiche und wurde zunehmend frustrierter, als zwanzig Minuten vergingen, ohne dass Olivers Auto in Sicht kam.

Verärgert zog sie ihr Handy heraus und rief ihn an, nur um ein Besetztzeichen zu hören. Als der Minutenzeiger eine weitere halbe Runde auf ihrer Uhr machte, knurrte Alisons Magen. Sie bestellte sich etwas zu essen und hatte gerade ihren ersten Schluck von ihrem Eiskaffee genommen, als ein silbergrauer BMW neben ihr hielt.

Oliver ließ das Fenster herunter und seine Augen fielen auf die beiden kalten Getränke in ihren Händen. Er griff nach dem ohne Strohhalm. „Latte? Akzeptabel, denke ich. Normalerweise bevorzuge ich Americano. Mach das nächstes Mal nicht falsch.“

Alison riss den Becher zurück. „Schmeichle dir nicht. Beide sind meine.“

Oliver warf einen neugierigen Blick auf das Jumbo-Burger-Menü zu ihren Füßen. „Bist du eine Art Wettkampfesserin?“

Bevor sie antworten konnte, drängte er: „Es ist brütend heiß hier draußen. Steig ein.“

„Du!“ Alison schnappte sich ihre Burger und ihren Kaffee und glitt mit einem empörten Schnaufen auf den Beifahrersitz. „Oliver, du bist eine Stunde und zwölf Minuten zu spät! Erkläre dich und entschuldige dich.“

„Ich hatte ursprünglich vor, Taylor dich abholen zu lassen, aber er hat vergessen, sein Handy aufzuladen. Er hat meine Nachricht erst mittags gesehen“, erklärte Oliver glatt. „Du solltest dich geehrt fühlen, dass ich persönlich gekommen bin, um dein Chauffeur zu sein.“

„Unverschämt“, murmelte Alison und schmiedete im Stillen ihren Racheplan.

Oliver mochte keine Essensgerüche in seinem Auto und war angenehm überrascht, als Alison im Auto nichts aß. Seine Meinung über sie verbesserte sich leicht.

Alison, die anfällig für Reisekrankheit war, aß nie in fahrenden Fahrzeugen. Sie lehnte sich gegen die Kopfstütze zurück und schloss die Augen, wobei sie schnell einschlief.

Oliver verlangsamte das Auto leicht, als er bemerkte, dass Alison kalt zu sein schien. Er stellte die Temperatur höher und senkte die Lautstärke der Musik, während er in angenehmer Stille fuhr.

Vierzig Minuten später weckte Oliver sie sanft.

„Sind wir da?“ Alison blinzelte verschlafen und schaute überrascht. „Bin ich eingeschlafen?“

Ihre Schlaflosigkeit war schwerwiegend, und seit Lucys Verschwinden waren Albträume häufig geworden. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gut geschlafen hatte, was ihr unerwartetes Nickerchen in Olivers Auto umso überraschender machte.

Vielleicht sollte sie das nächste Mal, wenn sie nicht schlafen konnte, einen Fahrer engagieren?

„Du bist eingeschlafen. Du hast nicht nur geschnarcht, sondern auch im Schlaf geredet“, sagte Oliver.

„Unmöglich.“ Alison leugnete es entschieden. „Ich rede nicht im Schlaf.“

„Doch, hast du“, beharrte Oliver mit derselben Zuversicht.

Alison drängte: „Was habe ich gesagt?“

„Du hast—“ Oliver bemerkte die verborgene Angst in ihren Augen und erinnerte sich daran, wie sich ihre Stirn im Traum gefurcht hatte, als sie „Lucy“ rief. Er schluckte seine Worte und grinste verschmitzt. „Nur ein Scherz. Du hast nicht im Schlaf geredet. Aber du hast geschnarcht wie ein Düsenjet.“

Alison lächelte leicht und erhob ihre Faust.

In der Nähe hatten sich vier oder fünf Leute versammelt, um das Spektakel zu beobachten.

„Taylor, bist du sicher, dass die schöne Frau eine Spezialistin ist, die du mitgebracht hast? Nicht Olivers neue Freundin?“, fragte jemand.

„Sie streiten sich!“

„Beeindruckend! Oliver ist völlig unterlegen!“

„Schlag nicht in sein Gesicht! Sein gutes Aussehen ist alles, was er neben Geld hat!“

Alison drehte sich zu den Stimmen um. Vor ihr stand eine luxuriöse Villa mit einem gepflegten Garten. Mehrere Leute sahen vom Balkon im zweiten Stock aus zu, und Taylor winkte ihr aufgeregt zu.

Olivers Team bestand aus zehn Personen – drei Frauen und sieben Männern – die jeweils auf verschiedene Bereiche spezialisiert waren: Forensik, Profiling, Kriminalpsychologie, Hacking und mehr. Eine kleine, aber elite Einheit.

Alison war überrascht, ein bekanntes Gesicht unter ihnen zu finden.

„Lange nicht gesehen“, begrüßte Helen Wilson sie nervös, mit subtiler Feindseligkeit in den Augen.

„Ihr kennt euch?“ fragte Taylor neugierig.

„Alison und ich waren Kommilitoninnen vom Grundstudium bis zur Promotion“, erklärte Helen mit erzwungener Leichtigkeit. „Sie war immer die Beste in unserer Klasse, und ich war immer die Zweitbeste.“

Taylor sah erstaunt aus. „Du bist auch Psychologin? Ich dachte, eine 26-jährige Expertin für Religionswissenschaften wäre schon beeindruckend genug, aber das ist nur deine Nebenspezialität!“

Alison lächelte gnädig. „Einige berühmte religiöse Ereignisse in der Geschichte können aus einer psychologischen Perspektive analysiert werden. Ich habe Religion studiert, um die Psychologie besser zu verstehen. Übrigens habe ich in Kriminalpsychologie perfekte Noten erzielt.“

Alison streckte Helen die Hand entgegen. „Es ist schön, dich wiederzusehen.“

„Gleichfalls“, antwortete Helen und studierte Alisons Gesichtsausdruck, um ihre Aufrichtigkeit zu erkennen.

Helen hatte Alison immer als ihre Rivalin betrachtet. Andere nannten sie die beiden unüberwindbaren Gipfel ihres Psychologie-Fachbereichs, aber Helen kannte die Wahrheit: Trotz ihres Altersunterschieds von zwei Jahren konnten ihr Talent und ihre Anstrengungen Alisons nicht das Wasser reichen. Als Helen stolz als Jahrgangsbeste abschloss, erwarb Alison zwei Doktortitel.

Gedanken an Alison erinnerten Helen immer daran, dass sie, egal wie hart sie arbeitete, noch härter arbeiten müsste, um Alisons Leistungen zu erreichen.

Was machte Alison mit Oliver? Helens Handflächen wurden feucht. Sie liebte ihren Job und fürchtete, Alison könnte hier sein, um sie zu ersetzen.

Die Gruppe betrat den Konferenzraum, in dem Alisons Forschung auf der Projektionsleinwand zu sehen war. Oliver deutete darauf, dass sie erklären sollte.

Alison begann effizient. „Das Buch, das ich in einem ausländischen Antiquariat gefunden habe, konzentriert sich auf religiöse Psychologie. Diese handgezeichneten Bilder und Gedichte, die darin versteckt waren, sind die Traumaufzeichnungen des Besitzers.“

Helen fügte hinzu: „Träume drücken das Unterbewusstsein aus. Durch ihre Analyse können wir die tiefsten Wünsche und Konflikte einer Person verstehen.“

Alison nickte. „Diese Zeichnung, die der dreifachen Erhängungsszene ähnelt, stellt tatsächlich drei Götter dar, die zur Erde herabsteigen. Das begleitende Gedicht erklärt, dass, da Götter im Himmel leben, ihre göttlichen Formen nicht aufrecht in unsere Welt eintreten können. Sie kommen umgekehrt an, und nur ihre Schatten – ihre umgekehrten Reflexionen – können sich hier manifestieren.“

„Das ist also nur ein Traum von jemandem?“ Taylor sah fassungslos aus.

Olivers rechter Zeigefinger tippte rhythmisch auf den Tisch. „Der Mörder muss dieses Bild gesehen haben, aber was ist sein Zweck?“

Helen analysierte sofort. „Täter solcher bizarren Fälle sehnen sich nach Aufmerksamkeit. Je mehr Menschen es bemerken, desto erfüllter fühlen sie sich. Sie sind typischerweise mutig, unterdrücken aber in ihrem Alltag ihr wahres Wesen – oft unauffällige Individuen, die möglicherweise ein unerfülltes Leben führen.“

Sie warf einen diskreten Blick auf Alison und versuchte unbewusst, sie zu übertreffen.

Alison erinnerte daran, die Symbolik der Zeichnung nicht zu übersehen. „Wenn sich der Mörder psychologisch als göttlich identifiziert, wird die Manifestation sicherlich weitere Handlungen auslösen. Die dreifachen Erhängungen könnten nur der Anfang sein.“

„Du meinst, der Mörder wird wieder zuschlagen?“ Oliver runzelte nachdenklich die Stirn.

Während er nachdachte, studierte Alison die Informationen über die drei Opfer, die an der Tafel angebracht waren.

Die männlichen Opfer waren 28 und 52 Jahre alt, ein Straßenmusiker und ein Hausmeister. Das weibliche Opfer war 33 und führte einen Kiosk. Sie schienen keine Verbindung zu haben – ein großes Fragezeichen war zwischen ihren Fotos gezeichnet.

Alison fragte: „Kannten diese drei den Mörder?“

Oliver antwortete abwesend: „Unwahrscheinlich. Der Mörder hat die Opfer wahrscheinlich zufällig ausgewählt.“

Alison schüttelte den Kopf. „Diese drei repräsentieren die Sonne, den Mond und die Sterne, entsprechend den drei Göttern. Sie konnten nicht zufällig ausgewählt worden sein. Ihr überseht eine Möglichkeit – diese drei könnten Selbstmord begangen haben.“

Bevor sie fertig war, widersprach jemand lautstark. „Unmöglich!“

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