Kapitel 7 Schlafloser Verdacht

„Hat er mich irgendwie betäubt?“ murmelte Alison beunruhigt vor sich hin, als sie daran dachte, wie tief sie nun schon zweimal in Olivers Auto eingeschlafen war.

„Hat er hypnotisches Gas in die Klimaanlage getan? Oder hat er mich niedergeschlagen, als ich nicht hingesehen habe?“

Alison rieb sich die Nasenwurzel und schloss die Augen, die Erschöpfung lastete schwer auf ihr.

Es war bereits Donnerstagnachmittag. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht hatte sie drei verschiedene Taxis genommen und war durch die halbe Stadt gefahren, ohne Erfolg. Es waren über sechsunddreißig Stunden vergangen, seit sie zuletzt in Olivers Auto geschlafen hatte, und die Welt um sie herum wurde immer verschwommener und verzerrter.

Was Alison noch mehr frustrierte, war ihr völliges Scheitern, Matthew in den letzten zwei Tagen näherzukommen. Ihre Nachforschungen über Matthew und Lucy unter dem Schulpersonal hatten nichts Nützliches ergeben. Im Gegenteil, zu viele Fragen schienen Misstrauen zu wecken.

Selbst der Fall des Dreifach-Hängens, auf den Matthew so fixiert war, hatte ihr keine neuen Erkenntnisse gebracht. Alison fühlte sich wie eine kopflose Fliege, verloren in einem Labyrinth aus wirren, fragmentierten Hinweisen.

Das plötzliche Klingeln ihres Telefons unterbrach ihre Gedanken.

„Du solltest jetzt Feierabend haben. Ich schicke jemanden, der dich abholt“, erklärte Oliver, ohne zu fragen, ob Alison verfügbar war. Selbst wenn sie andere Pläne gehabt hätte, erwartete er, dass sie seine Bedürfnisse priorisierte.

Alison war nicht verärgert über seinen befehlenden Ton. Stattdessen erfüllte sie der Gedanke, endlich etwas richtigen Schlaf zu bekommen, mit Freude.

„In Ordnung, ich warte am Schuleingang auf dich“, sagte sie, griff nach ihrer Leinwandtasche und verließ ihr Büro. Sie fragte Oliver nach dem Fortschritt im Fall.

„Landons und Lindas Kristallarmbänder und Quincys Kristallornament stammen definitiv aus derselben Quelle, aber wir haben den Verkäufer noch nicht gefunden. Die Spur ist im Moment kalt“, erklärte Oliver. „Es gibt jemanden online, der sich als ‚Experte für Kriminalfälle‘ ausgibt und behauptet, das Ganze sei von Byron Reyes inszeniert worden – hast du das Video gesehen?“

„Nein“, antwortete Alison. Ihr Interesse am Fall des Dreifach-Hängens war deutlich gesunken, nachdem sie festgestellt hatte, dass er nichts mit Lucys Verschwinden zu tun hatte. Sie fragte widerwillig: „Wer ist Byron?“

„Der Streamer, der den Tatort zuerst entdeckt hat“, erklärte Oliver.

Alison gab einen kleinen Laut der Überraschung von sich, als sie sich erinnerte.

„Unser offizielles Konto hat an einem Tag über zehntausend private Nachrichten erhalten, in denen Byrons Verhaftung gefordert wird. Das Lächerliche ist, dass mein Untergebener Byrons Video anhand der Behauptungen dieses sogenannten Experten analysiert hat und tatsächlich etwas Verdächtiges gefunden hat!“ Oliver hatte gerade seinen Ärger an seinem Untergebenen ausgelassen und dessen Bonus für den Monat gestrichen, aber seine Laune blieb schlecht.

„Ich werde Byron bald treffen. Helen besucht die Familien der Opfer, also brauche ich einen anderen psychologischen Analysten. Du wirst mich unterstützen“, erklärte er.

„Verstanden.“ Alison legte auf und suchte online nach dem Video, das Oliver erwähnt hatte.

Das Konto hieß einfach „Experte für Kriminalfälle“ und hatte keine beruflichen Qualifikationen. Es hatte nur ein Video gepostet, das mit einem reißerischen Titel über zehn Millionen Aufrufe erzielt hatte.

In dem Video trug der „Experte für Kriminalfälle“, der eine bronzefarbene Maske trug und durch einen Stimmverzerrer sprach, eine männliche Erscheinung. Es begann mit Vergleichsdiagrammen von Byrons Follower-Zahlen vor und nach dem Vorfall, gefolgt von einer Übersicht des Dreifach-Hängens. Der dramatische Ton und die unheimliche Hintergrundmusik manipulierten effektiv die Emotionen. Dann folgte eine Analyse von Byrons Mikroausdrücken während des Livestreams in 0,5-facher Geschwindigkeit.

Für Alison schien das Video eindeutig darauf ausgelegt zu sein, das aktuelle Thema auszunutzen und Byron anzugreifen, aber die Zuschauer stimmten offenbar den Schlussfolgerungen zu. Dichte Kommentarströme verfluchten Byron, während andere die Strafverfolgungsbehörden markierten, um deren Inkompetenz zu verspotten und sie aufzufordern, etwas zu lernen.

Kein Wunder, dass Oliver so schlecht gelaunt war.

Ein unbekanntes, dunkelblaues Auto fuhr vor und hupte. Alison sah hinüber und sah Susan am Steuer.

„Warum du?“ fragte Alison überrascht.

„Nicht Herr West persönlich. Enttäuscht?“ Susan warf ihr einen Seitenblick zu.

„Ein bisschen, ja“, gab Alison offen zu. Sie schnallte sich an und machte sich bereit, die Augen auszuruhen.

Susan schien gereizt. „Warum kannst du nicht einfach selbst ein Taxi nehmen? Wir sind alle mit Arbeit überhäuft und jetzt müssen wir auch noch deine Chauffeure spielen!“

„Weil Oliver mir die Adresse nicht gegeben hat. Er hat nur gesagt, dass mich jemand abholen würde. Ich habe eigentlich mein eigenes Auto“, antwortete Alison, unbeeindruckt von Susans Haltung. Sie war im Waisenhaus aufgewachsen und hatte schon alle Arten von kalter Behandlung erlebt, daher war sie längst daran gewöhnt.

Es war nicht notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, warum jemand sie nicht mochte. Manche Menschen traf man einfach, reiste kurz gemeinsam und trennte sich bald wieder. Die einzige Person auf dieser Welt, die sie wirklich liebte, war ihre Schwester Lucy.

Susan hatte nicht mit einer so zustimmenden Antwort gerechnet. Als sie die schwere Müdigkeit auf Alisons Gesicht bemerkte, verspürte sie einen Hauch von Schuld. „Wie viele Tage hast du schon nicht mehr geschlafen? Ist die Arbeit an der Schule so anstrengend? Du solltest dich etwas ausruhen. Wir fahren jetzt zu Byrons Wohnung. Mr. West ist bereits dort. Seit das Video dieses Experten viral ging, ist Byrons Telefon nicht mehr erreichbar. Wir machen uns Sorgen, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte.“

Alison warf Susan einen überraschten Blick zu, überrascht, dass hinter ihrer harten Schale ein weicheres Herz steckte.

„Ärgere dich nicht über diese Online-Kommentare. Diese Tastaturkrieger haben keine Ahnung, wie hart ihr alle arbeitet“, sagte Alison abwesend und schloss die Augen, um Schlaf zu finden. Doch gerade als sie einzudösen begann, wurde sie durch ein Hupen auf der benachbarten Spur erschrocken.

„Hup, hup, hup! Als ob du der Einzige wärst, der eine Hupe hat!“ Susan ließ das Fenster herunter und drückte wütend auf ihre eigene Hupe. Als sie sah, dass Alison wach war, wirkte sie etwas verlegen. „Tut mir leid, ich habe vergessen, dass du schlafen wolltest.“

„Schon gut“, antwortete Alison leise und griff fester nach ihrem Sicherheitsgurt, nun völlig wach.

Eine halbe Stunde später kamen sie in Byrons Wohnanlage an.

Doch Alisons Wahrnehmungsstörung war in vollem Gange; die Welt um sie herum hatte sich komplett verändert.

Susan war zu einem Elefanten geworden, der ein marineblaues Tüllkleid und eine Krone auf dem Kopf trug. Ihr langer Rüssel schwang hin und her, und ihre dicken Füße strahlten Kraft und Stärke aus.

„Alison! Susan!“ Alison hörte Taylors Stimme und drehte sich um, um einen schönen, langhaarigen Affen auf sie zuspringen zu sehen, gefolgt von zwei großen weißen Vögeln.

Warum gab es zwei Olivers?

Alison rieb sich verwirrt die Augen und schaute dann genauer hin. Einer war eine Gans, der andere eine Ente.

Beide hatten lange, ausgestreckte Hälse und watschelten beim Gehen. Alison bemerkte, dass einer gewöhnliche Turnschuhe trug, während der andere Designerschuhe aus Leder anhatte. Sie nahm natürlich an, dass der mit den Lederschuhen Oliver war.

„Gehen wir jetzt zu Byron?“ fragte sie ihn.

Oliver schwieg, die Arme verschränkt, und hob eine Augenbraue, als Alison stattdessen Manuel Barnett ansprach.

Manuel, ein Zeichner, war am Dienstag nicht in der Villa gewesen und traf Alison heute zum ersten Mal. Er sah verwirrt aus. „Hallo?“

Alison erkannte schnell ihren Fehler und wandte sich dem anderen Vogel zu.

„Du hast mich tatsächlich mit jemand anderem verwechselt?“ Oliver runzelte die Stirn bei Alisons erschöpftem Aussehen und bemerkte schnell ihren desorientierten Blick – genau wie bei ihrem ersten Treffen.

„Ich kann wirklich keinen Unterschied zwischen einer Gans und einer Ente erkennen“, murmelte Alison und zeigte dann auf seine Schuhe. „Du trägst tatsächlich etwas Billiges?“

„Byrons Haustür wurde mit Farbe und Müll beschmiert. Meine Schuhe waren ruiniert, also trage ich vorübergehend diese billigen.“ Oliver schritt voran. „Keine Zeit für unnötiges Gerede. Folgt mir, alle.“

Byron, fünfundzwanzig und Single, lebte allein. Erschrocken durch den Farbvorfall, fragte er nervös durch die Tür nach Olivers Absichten, bevor er sie vorsichtig öffnete.

Alison erinnerte sich an Byrons Aussehen – quadratisches Gesicht, kleine Augen, ziemlich gewöhnlich – aber in ihrem aktuellen halluzinatorischen Zustand erschien Byron in chaotische schwarze Linien gehüllt, was seine Mimik unmöglich zu erkennen machte.

Ein schwacher Duft lag in der Luft. Alisons Nasenflügel bebten leicht, als sie fragte: „Hast du Lufterfrischer gesprüht?“

Würde jemand, der online gemobbt wird und sich nicht aus dem Haus traut, sich um Lufterfrischer kümmern?

Alisons einfache Frage ließ Byrons Gesicht sofort Alarm zeigen.

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