


Kapitel: 2
Maras Augen weiteten sich vor Schock. "Du? Aber wie kannst du dir sicher sein?"
"Ich bin es nicht," gab Lyra zu und fuhr sich mit der Hand durch ihr dunkles Haar. "Aber die Art, wie dieses Grimoire mich gerufen hat, die Tatsache, dass ich den Zeitverschlussspruch brechen konnte... das kann kein Zufall sein."
Eine schwere Stille legte sich zwischen sie, als die Implikationen einsickerten. Das Schicksal der Welt möglicherweise auf Lyras Schultern zu tragen, war eine Last, die fast zu groß war, um sie zu begreifen.
"Was soll ich tun?" fragte Mara schließlich, ihre Stimme voller unerschütterlicher Loyalität.
Lyra brachte ein kleines, dankbares Lächeln zustande. "Fürs Erste hilf mir bei der Recherche. Wir müssen diese Artefakte identifizieren, die in der Prophezeiung erwähnt werden, und herausfinden, wo sie versteckt sein könnten. Und wir müssen es leise tun, ohne Verdacht bei den anderen Hexen zu erregen."
Mara nickte, ihr Ausdruck entschlossen. "Du kannst auf mich zählen. Aber Lyra, versprich mir etwas."
"Alles."
"Wenn es zu gefährlich wird, wenn wir überfordert sind, gehen wir zur Hohen Priesterin. Einverstanden?"
Lyra zögerte einen Moment, bevor sie nickte. "Einverstanden. Aber lass uns beten, dass es nicht dazu kommt."
Als die beiden Hexen sich über das alte Grimoire beugten, brannten die Kerzen um sie herum immer tiefer herunter. Draußen hallte das Heulen eines Wolfs in der Ferne wider, was beide Frauen dazu brachte, unbehagliche Blicke auszutauschen. Das erste Zeichen der Prophezeiung war bereits eingetreten, und die Zeit war nicht auf ihrer Seite.
In den nächsten Stunden arbeiteten Lyra und Mara unermüdlich, schrieben Passagen aus dem Grimoire ab und verglichen sie mit anderen Texten aus der umfangreichen Bibliothek. Je mehr sie entdeckten, desto überwältigender erschien ihre Aufgabe.
"Der Mondstein von Avalon, der Fang des ersten Wolfs, die Tränen der Meereshexe," rezitierte Lyra, während sie von der Liste las, die sie zusammengestellt hatten. "Diese Artefakte sind über den ganzen Globus verstreut, einige an Orten, von denen ich noch nie gehört habe."
Mara rieb sich die müden Augen und unterdrückte ein Gähnen. "Und wir haben keine Ahnung, wie wir sie finden sollen, geschweige denn, wie wir sie beschaffen sollen. Lyra, das ist Wahnsinn. Wie sollen wir das alles schaffen, bevor der Blutmond dreimal aufgeht?"
Lyras Schultern sanken unter der Last ihrer scheinbar unmöglichen Mission. "Ich weiß es nicht, Mara. Aber wir müssen es versuchen. Die Alternative ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken."
Als ob ihre Worte eine Antwort hervorriefen, fegte plötzlich ein Windstoß durch die Bibliothek, löschte mehrere Kerzen und ließ Papiere zu Boden flattern. Beide Hexen zuckten zusammen, erschrocken über die unerwartete Störung.
"Was war das?" flüsterte Mara, ihre Augen huschten durch den schattigen Raum.
Lyra stand langsam auf, ihre Sinne auf höchste Alarmbereitschaft. "Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube nicht, dass wir noch allein sind."
Aus der dunkelsten Ecke der Bibliothek trat eine Gestalt hervor. Groß und schlank, mit Haut so blass wie Mondlicht und Augen, die die Tiefen des Universums zu halten schienen, strahlte das Wesen eine Aura uralter Macht aus, die beide Hexen unwillkürlich einen Schritt zurücktreten ließ.
"Wer bist du?" verlangte Lyra zu wissen, ihre Hände defensiv erhoben, bereit, im Handumdrehen einen Schutzzauber zu wirken.
Die Lippen der Gestalt kräuselten sich zu einem rätselhaften Lächeln. "Ich bin unter vielen Namen bekannt, junge Hexe. Aber du kannst mich Selene nennen. Ich bin die Hüterin der Prophezeiung, die du entdeckt hast."
Mara schnappte nach Luft. "Die Mondgöttin selbst?"
Selene neigte leicht den Kopf, ohne Maras Annahme zu bestätigen oder zu dementieren. "Ich habe über dieses Grimoire Äonen lang gewacht, in Erwartung derjenigen, die seine Geheimnisse entschlüsseln könnte. Und nun, Lyra, Tochter von Erde und Himmel, hast du dich dieser Bürde als würdig erwiesen."
Lyras Gedanken rasten bei den Implikationen der Worte der Göttin. "Dann ist es wahr? Ich bin die Auserwählte, die in der Prophezeiung erwähnt wird?"
"Du hast das Potenzial dazu," antwortete Selene, ihre Stimme wie das Flüstern von Sternenlicht. "Aber der Weg vor dir ist voller Gefahren und schwieriger Entscheidungen. Bist du bereit, alles zu opfern, um diese Welt zu retten?"
Lyra zögerte, das Gewicht des Schicksals drückte auf sie herab. Sie dachte an ihren Hexenzirkel, ihre Familie, das Leben, das sie sich aufgebaut hatte. War sie wirklich bereit, alles zu riskieren? Doch als sie in Selenes alterslose Augen blickte, wusste sie, dass es nur eine Antwort geben konnte.
"Ich bin es," sagte Lyra, ihre Stimme fest trotz der Angst, die in ihrem Inneren tobte.
Selene nickte, ein Ausdruck der Zustimmung huschte über ihre ätherischen Züge. "Dann höre gut zu, denn ich kann dir nur einmal Anleitung geben. Um die im Grimoire vorhergesagte Apokalypse zu verhindern, musst du nicht nur die Artefakte sammeln, sondern auch ein Bündnis mit jemandem schmieden, der zwischen zwei Welten wandelt."
"Was meinst du damit?" fragte Lyra, ihre Stirn vor Verwirrung gerunzelt.
"Suche den einsamen Wolf, den Ausgestoßenen, dessen Heulen den Wandel ankündigt," wies Selene an. "Nur gemeinsam könnt ihr die bevorstehenden Prüfungen überwinden und die Tore schließen, bevor das Chaos regiert."
Bevor Lyra nach einer Erklärung fragen konnte, begann Selene zu verblassen, ihre Gestalt wurde durchsichtig. "Denke daran, junge Hexe, die Zeit ist nicht dein Verbündeter. Vertraue auf deine Macht, aber hüte dich vor der Dunkelheit, die in deinem eigenen Herzen lauert. Das Schicksal aller Reiche liegt in deinen Händen."
Mit diesen letzten Worten verschwand Selene und ließ Lyra und Mara wieder allein in der schwach beleuchteten Bibliothek zurück. Die beiden Hexen standen einige Momente lang in betäubtem Schweigen da und versuchten zu verarbeiten, was sie gerade erlebt hatten.
"Bei der Göttin," hauchte Mara schließlich. "Lyra, ist dir klar, was das bedeutet? Du wurdest von Selene selbst auserwählt!"
Lyra sank zurück in ihren Stuhl, ihre Gedanken wirbelten angesichts der enormen Aufgabe, die vor ihr lag. "Es bedeutet, dass wir noch weniger Zeit haben, als wir dachten. Und anscheinend muss ich einen Werwolf finden, um die Apokalypse zu verhindern."
Mara legte eine tröstende Hand auf die Schulter ihrer Freundin. "Du wirst nicht allein sein, Lyra. Ich werde dir in jeder erdenklichen Weise helfen."
Lyra brachte ein schwaches Lächeln zustande, dankbar für die unerschütterliche Unterstützung ihrer Freundin. "Danke, Mara. Ich habe das Gefühl, dass ich jede Hilfe brauchen werde, die ich bekommen kann."
Als das erste Licht der Morgendämmerung durch die Buntglasfenster zu filtern begann, stand Lyra auf, eine neu gefundene Entschlossenheit in ihren Augen. "Wir sollten uns ausruhen. Morgen beginnen wir unsere Suche nach den Artefakten und diesem mysteriösen einsamen Wolf."
Mara nickte und unterdrückte ein weiteres Gähnen. "Was wirst du dem Zirkel sagen?"
Lyras Ausdruck verhärtete sich, als sie das Grimoire sorgfältig schloss und es in ein schützendes Tuch wickelte. "Vorerst nichts. Bis wir mehr wissen, ist es sicherer, dies zwischen uns zu behalten. Je weniger Leute von der Prophezeiung wissen, desto geringer ist die Chance, dass sie in die falschen Hände gerät."
Als sie die Bibliothek verließen, warf Lyra einen letzten Blick auf die schattige Ecke, in der Selene erschienen war. Das Gewicht der Welt lastete nun auf ihren Schultern, und sie schwor sich still, alles zu tun, um die Apokalypse zu verhindern, egal welchen persönlichen Preis sie dafür zahlen musste.
Weit entfernt, in einem mondbeschienenen Wald, hob ein einsamer Wolf den Kopf zum Himmel und heulte, wodurch Ereignisse in Gang gesetzt wurden, die sowohl ihr Leben als auch das Schicksal der Welt unwiderruflich verändern würden.