Kapitel 4

„Daniel, du kannst im Gästezimmer bleiben!“

Emily öffnete die Tür und bückte sich, um die Hausschuhe zu holen. Doch dann erstarrte sie.

Diese Wohnung – sie hatte sie heimlich gemietet, ohne Alexanders Wissen.

An ihrem ersten Hochzeitstag hatte Alexander sich betrunken und bemerkenswerterweise viele Dinge mit ihr geteilt, die er zuvor nie erwähnt hatte.

Er erzählte ihr, dass er nie wirklich die Wärme einer Familie erlebt hatte und nicht wusste, wie er seine Gefühle richtig ausdrücken sollte.

Er sagte, seine Eltern seien immer beschäftigt gewesen, und er habe ihr leeres Herrenhaus gehasst, sich stattdessen ein kleines, gemütliches Zuhause mit jemandem, den er liebte, gewünscht.

Er erwähnte, dass er warme, heimelige Dekorationen mochte, anstatt der kalten Schwarz-Weiß-Grau-Farbgebung ihres aktuellen Zuhauses.

Obwohl Alexander nach dem Nüchternwerden wieder zu seiner gewohnten Kälte zurückkehrte, hatte Emily jedes Wort jener Nacht in ihrem Herzen bewahrt.

Sie hatte einen Fünfjahresmietvertrag für diese 90 Quadratmeter große Zweizimmerwohnung unterschrieben und sie in das warme Zuhause verwandelt, das er beschrieben hatte, in der Hoffnung, ihm eines Tages die Überraschung zu zeigen.

Sie hätte nie gedacht, dass dieser Moment nie kommen würde.

Ironischerweise war ihr Geheimnis nun zu ihrem Fluchtweg geworden.

Daniel schaute hinein und hielt ebenfalls überrascht inne. „Ist das eure Wohnung, die du mit deinem Mann teilst? Mach dir keine Sorgen, Emily. Ich kann woanders unterkommen.“

Daniel wusste nicht, dass Emilys Ehemann Alexander war.

Als Daniel ins Gefängnis ging, war Emily noch eine Doktorandin an der Bellevue Universität. Wer hätte sich vorstellen können, dass ein Waisenkind ohne familiäre Verbindungen die Frau des CEO der Foster Group werden würde?

Er wollte sich umdrehen und gehen, aber Emily griff schnell nach seinem Handgelenk.

Wo sollte jemand, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, Geld für eine Unterkunft herbekommen?

„Daniel, bitte bleib. Ich reiche ohnehin die Scheidung ein, also spielt es keine Rolle. Außerdem bist du wie ein echter Bruder für mich.“

Emily würde nie vergessen, wie Daniel sie beschützt hatte, als sie zum ersten Mal im Kinderheim Dawn ankam und sich zwischen sie und die älteren Kinder stellte, die versuchten, sie zu schikanieren.

Sie erinnerte sich daran, wie ein wohlhabendes Paar nur Daniel adoptieren wollte, er jedoch darauf bestand, sie mitzunehmen, was dazu führte, dass beide im Heim blieben.

Ohne Daniel wäre Emily vielleicht nicht so gesund und stark aufgewachsen, wie sie es getan hatte.

In ihrem Herzen war Daniel wirklich ihr Bruder.

Nachdem sie gesprochen hatte, reichte Emily ihm ein Paar Herrenhausschuhe.

„Setz dich, Daniel. Im Kühlschrank sind Essen und Getränke – bedien dich. Ich gehe dein Bett machen.“

Als Emily wegging, füllten sich Daniels schmale Augen mit Schuldgefühlen.

Früh am nächsten Morgen kam Emily am pharmazeutischen Forschungsinstitut an.

Wenn sie eine Wahl gehabt hätte, hätte sie Sophie nicht nachgegeben.

Aber für das Kinderheim Dawn hatte sie keine Alternativen.

Die Empfangsdame am Eingang war eine junge Frau mit einem angenehmen, puppenhaften Gesicht.

Als sie hörte, dass Emily nach Sophie suchte, verschwand ihr Lächeln sofort. „Dr. Laurent ist in einer Besprechung. Warten Sie dort.“

Emily zögerte, stritt aber nicht. Sie ging zum Sofa am Fenster und setzte sich.

Da sie nichts anderes zu tun hatte, holte sie ihr Handy heraus, um zu überprüfen, ob einer ihrer Bewerbungen beantwortet worden war.

Seitdem sie Alexander um die Scheidung gebeten hatte, war eine Fortsetzung bei der Foster Group offensichtlich unmöglich.

Alles im Leben erforderte Geld – besonders ihre medizinische Behandlung. Sie brauchte einen Job.

Die Luft war von einem schwachen Kräuterduft durchzogen, der Emily nostalgisch machte.

Viele Menschen mochten diesen Geruch nicht, aber sie liebte ihn. Alle ihre Professoren hatten gesagt, Emily sei für die pharmazeutische Forschung geboren.

Doch sie hatte ihr weiteres Studium aufgegeben, um Alexander zu heiraten, und wechselte zum Jura – ein Bereich, von dem sie nichts wusste.

Zum Glück war Emily intelligent. Innerhalb von drei Jahren hatte sie ihre Zulassung als Anwältin erworben und sich im juristischen Bereich etabliert.

Sie hatte Lebensläufe an mehrere Anwaltskanzleien und große Unternehmen geschickt, aber keine Antworten erhalten, nicht einmal eine einzige Rückmeldung.

Emily runzelte leicht die Stirn, legte ihr Handy beiseite und versicherte sich selbst, dass es noch früh war – vielleicht würden die Antworten bis zum Mittag eintreffen.

Die Zeit verging langsam. Jede halbe Stunde ging Emily zur Rezeption, um zu fragen, wann Sophies Besprechung enden würde, aber jedes Mal wurde ihr gesagt, sie solle weiter warten.

Bei ihrer letzten Anfrage war die Rezeptionistin sichtlich genervt. „Dr. Laurents Besprechung betrifft das Leben von Tausenden von Menschen. Egal wie dringend Ihr Anliegen ist, Sie müssen warten!“

In Emilys Augen spiegelte sich unterdrückte Frustration wider.

Wäre es nicht wegen des Kinderheims, würde sie sich nicht um Sophies Ruf scheren – die Frau hatte die Kritik selbst auf sich gezogen.

Zurück auf dem Sofa verspürte Emily eine Welle von Schwindel.

Sie holte einen Spiegel heraus und betrachtete sich.

Mit Make-up sah Emilys Teint annehmbar aus, aber der Schweiß auf ihrer Stirn und um ihre Nase verriet ihr Unwohlsein.

Emily atmete tief durch und kämpfte sich auf die Beine.

Sie musste sofort ins Krankenhaus.

Gerade als sie die Tür erreichte, rief die Rezeptionistin ihr nach. „Hey, wo wollen Sie hin?“

Emily antwortete schwach: „Mir geht es nicht gut. Ich muss gehen.“

Die Rezeptionistin höhnte. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so unehrlich ist! Dr. Laurent ist eine so außergewöhnliche und angesehene Frau – Sie können nicht ein paar Stunden warten, ohne einen Anfall zu bekommen? Wer glauben Sie, wer Sie sind im Vergleich zu Dr. Laurent in Bezug auf Bildung, Fähigkeit oder Aussehen? Ich sage Ihnen, wenn Sie jetzt gehen, erwarten Sie nicht, Dr. Laurent wiederzusehen!“

Die wiederholten Erwähnungen von „Dr. Laurent“ hinterließen bei Emily einen bitteren Geschmack.

Hätte sie in der Wissenschaft geblieben, wäre sie jetzt vielleicht selbst Doktorin.

Aber das Leben bot keine Wiederholungen.

Emily biss sich auf die Lippe und kehrte zum Sofa zurück.

Der Raum begann zu verschwimmen. Emily biss sich auf die Zunge, um bei Bewusstsein zu bleiben.

Sie näherte sich erneut der Rezeption, ihre Stimme kaum hörbar.

„Bitte... könnten Sie... fragen...“

Die Rezeptionistin blickte ungeduldig von ihrem Handy auf. „Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen warten! Verstehen Sie einfache Anweisungen nicht? Dr. Laurent ist – hey! Was ist mit Ihnen los? Krankheit vortäuschen wird nicht funktionieren!“

Bevor die Rezeptionistin ihren Satz beenden konnte, brach Emily schwer auf den Boden.

Die junge Frau geriet in Panik.

Obwohl sie Emily im Namen von Sophie schikanierte, war sie nicht wirklich bösartig – sie folgte nur den Anweisungen anderer. Als sie Emily ohnmächtig werden sah, rief sie sofort den Notruf.

Gerade als der Krankenwagen Emily abtransportierte, erschien Sophies Name erneut in den Trends.

Diesmal war die Schlagzeile ebenso explosiv und darauf ausgelegt, öffentliche Emotionen zu wecken:

#Umgekehrte Rollen! Heimzerstörerin Sophie Laurent bringt die rechtmäßige Ehefrau zum Zusammenbruch!#

Das begleitende Foto zeigte Emily, die auf dem Boden des Forschungsinstituts lag, obwohl ihr Gesicht noch verschwommen war.

Der Beitrag löste einen Aufruhr aus. Wütende weibliche Internetnutzerinnen überfluteten das offizielle Konto des Forschungsinstituts und markierten Sophies Profil mit Beleidigungen.

Männliche Internetnutzer hingegen verglichen Sophies Figur mit der der ursprünglichen Ehefrau und kamen zu dem Schluss, dass Alexander ein glücklicher Mann war.

Als Emily wieder zu Bewusstsein kam, war es bereits Nachmittag.

Ein Mann in einem makellosen Anzug saß neben ihrem Krankenhausbett, in goldenes Sonnenlicht getaucht.

„Ale...“

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