Kapitel 6 Isabellas Verdacht
Das Tudor-Herrenhaus
„Dr. York, wie geht es meiner Frau?“ Raymond kniete neben dem Bett, seine Finger zitterten vor Angst.
Ein älterer Arzt namens Stephen York saß auf einem Hocker und rückte seine Lesebrille zurecht, während er seine Finger an Glorias Handgelenk legte. Er murmelte leise vor sich hin, während er ihren Puls hörte, und sein wettergegerbtes Gesicht wurde immer ernster, als Glorias Teint eine beunruhigende Grauschattierung annahm.
Stephen hob den Kopf und fing Raymonds Blick mit einem bedeutungsvollen Ausdruck auf. Raymond gestikulierte sofort, dass alle den Raum verlassen sollten.
Brandon verweilte in der Nähe der Tür, während Isabella im Türrahmen stehen blieb, beide nicht bereit, ihre Wache aufzugeben.
„Bitte, Dr. York, sagen Sie mir – was ist mit meiner Frau?“ Raymonds Stimme brach vor Verzweiflung.
„Dr. York, Sie müssen uns etwas sagen. Mein Vater ist außer sich vor Sorge.“ Brandons Blick wich nicht vom bleichen Gesicht seiner Mutter, seine Stimme war vor Kummer erstickt. „Warum ist sie einfach so zusammengebrochen? Und wie sie aussieht...“
Seine Worte versiegten in seiner Kehle, unfähig, die schrecklichen Gedanken auszusprechen, die ihn quälten. Er wusste, dass die Liebe seiner Eltern tief war, und er konnte es nicht ertragen, solche düsteren Worte laut auszusprechen.
Isabella runzelte die Stirn und musterte Glorias Gesicht aufmerksam.
Etwas fühlte sich falsch an – das war nicht die einfache Schwäche einer Krankheit.
Obwohl Gloria zerbrechlich wirkte, hatte sie nie chronisch krank gewirkt. Ihr blasser Teint wurde immer darauf zurückgeführt, dass sie zu viel Zeit drinnen verbrachte, fernab vom Sonnenlicht.
Eine Person, die wegen Herzklopfen in Ohnmacht fiel, sollte sich nicht so schnell verschlechtern, nicht bei richtiger medizinischer Betreuung. Das aschfahle Aussehen, das sich über Glorias Gesicht ausbreitete, war zutiefst beunruhigend.
Mehr als alles andere wollte Isabella die Karten für ihre Mutter legen, aber das war kaum der richtige Zeitpunkt. Sie war auch neugierig auf Stephens medizinisches Fachwissen.
Stephens Blick schweifte durch den Raum, bevor er sich auf Isabella im Türrahmen richtete. Raymond nickte und stellte sie vor: „Das ist meine Tochter – wir haben sie gerade erst wiedergefunden.“
„Du bist Bunny?“ Stephens Stimme trug einen Anflug von Wiedererkennung, als er Isabella ansah.
Als sie ihren Kindheitsnamen hörte, zuckte Isabella überrascht zusammen.
„Ich war der erste Mensch auf dieser Welt, der dich gehalten hat.“ Stephen lächelte warm.
Isabella erkannte sofort, dass Stephen sie zur Welt gebracht haben musste.
Als Stephen so beiläufig in Erinnerungen schwelgte, während seine Frau schwer krank lag, riss Raymonds Geduld. „Dr. York, bitte – keine Ablenkungen mehr! Sagen Sie mir, was mit meiner Frau los ist. Ihre Finger sind eiskalt. Sollen wir sie ins Krankenhaus bringen?“
Der sonst so gefasste Raymond hätte unter normalen Umständen nie so direkt gesprochen.
Immerhin war Stephen der Chefarzt am Royal Birmingdon Memorial Hospital – vorzuschlagen, Gloria woandershin zu bringen, kam einem Zweifel an seiner Kompetenz gleich.
„Hm, denken Sie, dieser alte Mann ist über seine besten Jahre hinaus?“ Stephen tat empört mit einem theatralischen Schnaufen.
Brandon griff schnell ein und legte sanft eine Hand auf Stephens Arm. „Dr. York, meine Mutter sieht schrecklich aus – sagen Sie uns einfach, was los ist.“
„Ihre Mutter hat eine Herzischämie erlitten, was zu ihrer Ohnmacht führte.“ Stephen sprach langsam und bedächtig. „Ich werde Akupunktur anwenden, um sie zu stabilisieren – es sollte nicht zu ernst sein. Allerdings...“ Er zögerte und ließ den Satz unvollendet.
„Allerdings, was?“ Isabella konnte nicht anders, als einzuhaken.
Stephen schwankte, entschied sich schließlich jedoch, seinen Gedanken nicht zu Ende zu führen.
Seine Diagnose deutete darauf hin, dass Gloria Anzeichen einer angeborenen Herzkrankheit zeigte – aber das war unmöglich.
Als Gloria vor über zwanzig Jahren Brandon zur Welt gebracht hatte, hatte Stephen eine umfassende Untersuchung durchgeführt und keinerlei derartige Erkrankung festgestellt.
Wie konnte sie plötzlich Symptome eines angeborenen Defekts entwickeln nach all diesen Jahren?
Stephens Zögern verriet Isabella alles, was sie wissen musste - der Zustand ihrer Mutter war alles andere als einfach.
Ohne weitere Verzögerung wandte sich Stephen an Brandon. „Sunny, hol meine Silbernadeln.“
Stephen war berühmt für seine Fähigkeiten mit verzauberten Silbernadeln – Artefakte alter Magie, die sowohl Fleisch als auch Geist heilen sollten. Legenden sprachen von seiner Meisterschaft in verlorenen Heilkunsttechniken, die Seelen aus dem Griff des Todes entreißen konnten, obwohl niemand solche Wunder jemals aus erster Hand erlebt hatte.
Stephen rollte sorgfältig seinen Samtbeutel aus und legte jede verzauberte Silbernadel mit geübter Präzision auf makellines weißes Leinen – eine, drei, sieben, dreizehn insgesamt.
Beim Anblick weiteten sich die Augen von Raymond und Brandon. Er bereitete sich darauf vor, das legendäre Heilritual durchzuführen.
„Alle raus.“ Stephens Stimme duldete keinen Widerspruch.
Raymond zögerte nicht und führte Brandon aus dem Raum. Isabella verweilte im Türrahmen für einen letzten Blick auf ihre Mutter, bevor sie sich ihnen im Flur anschloss.
„Häschen, mach dir keine Vorwürfe für das, was heute passiert ist.“ Raymonds Stimme war sanft, als er versuchte, sie zu trösten. „Deine Mutter hat achtzehn Jahre gewartet, um dich wiederzusehen – sie muss überglücklich gewesen sein. Keiner von uns hätte diesen Zusammenbruch vorhersehen können. Nimm es dir nicht zu Herzen.“
Isabella nickte bei Raymonds Zusicherung.
Brandon legte einen schützenden Arm um Isabellas Schultern. „Isabella, vertrau Dr. York – er ist brillant, hat nur eine Vorliebe für das Dramatische. Mutter wird es gut gehen.“
Obwohl Brandon mit erzwungener Leichtigkeit sprach, verriet seine angespannte Haltung seine wahre Besorgnis.
Isabella blickte zu einem leeren Gästezimmer in der Nähe. Brandon folgte ihrem Blick und sagte: „Du musst auch erschüttert sein. Das ist ein Gästezimmer – geh und ruh dich eine Weile aus.“
Isabella nickte ohne Einwand und schlüpfte in den stillen Raum. Sie brauchte die Einsamkeit, um ihre Tarotkarten bezüglich des Zustands ihrer Mutter zu konsultieren. Trotz Stephens Ruf nagte die Sorge an ihr.
Wahrsagerei konnte das zukünftige Glück, die Lebensdauer und die Fähigkeit einer Person, große Krisen zu überstehen, offenbaren.
Isabella schloss die Tür und legte ihr Tarotdeck aus, zog schnell drei Karten und drehte sie um – die Sonne, das Rad des Schicksals und der Engel. Die Lesung offenbarte, dass ihre Mutter eine tiefgreifende Krise durchmachte.
Sie zog zwei weitere Karten, um die Zukunft ihrer Mutter zu erblicken, und enthüllte den Stab und den Nebel. Das bedeutete, dass jemand ihre Mutter retten konnte, aber sie würde diesmal nicht vollständig geheilt werden. Ihr wahrer Retter würde später erscheinen.
Isabella sammelte die Karten ein und überlegte über die Lesung, bevor sie ihre Mentorin Jenny anrief.
„Oh, mein kleiner Engel! Was für eine schöne Überraschung. Hast du deinen Flug schon gebucht? Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.“
Jennys warme Stimme strömte wie Honig durchs Telefon.
Berührt von Jennys liebevoller Einladung sprach Isabella ehrlich: „Jenny, ich habe meine leiblichen Eltern gefunden und bleibe jetzt bei ihnen. Aber meine Mutter ist zusammengebrochen und erkrankt. Ich habe gerade die Karten für sie gelegt...“
„Die Lesung war nicht günstig, oder?“ Jennys Intuition war messerscharf.
„Nein, Jenny.“ Isabellas Stimme sank kaum über ein Flüstern hinaus. „Ich vermute, jemand hat einen Zauber auf meine Mutter geworfen.“
„Was lässt dich das denken?“
„Jenny, du solltest nicht vergessen – ich bin deine beste Schülerin. Ich kann den Unterschied zwischen echter Krankheit und einem magischen Fluch erkennen.“


























































































