


Kapitel 2
Jasmines Perspektive
Ich flüchtete in mein Schlafzimmer und schlug die Tür zu, ließ endlich die Tränen kommen. Sie brannten heiße Spuren auf meinen Wangen, als ich zu Boden glitt, den Rücken gegen die Tür gelehnt. Schluchzen riss durch meine Brust, der Klang wurde von meinen Händen, die ich gegen meinen Mund presste, gedämpft.
Ich versuchte, an Fluchtwege zu denken, Orte, zu denen ich rennen könnte, Menschen, die mir vielleicht helfen könnten. Aber ich hatte keinen Ort, an den ich gehen konnte, keine Möglichkeit, meine Mutter zu schützen, wenn ich ging.
Ein sanftes Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken.
„Jasmine?“ Mamas Stimme war kaum hörbar. „Ich... ich habe ein paar Eisbeutel auf die Kommode gelegt. Für dein... für dein Gesicht.“ Sie pausierte. „Es tut mir so leid, Schatz. Ich wollte das nie... ich hätte nicht... Gott, ich bin eine so schreckliche Mutter.“
Ich wollte sie so sehr anschreien, sie fragen, warum sie nie gegen ihn gekämpft hat, warum sie all das geschehen ließ. Aber ich konnte nicht – sie war genauso ein Opfer wie ich, über die Jahre hinweg gebrochen. Stattdessen hörte ich mich flüstern: „Mama... Wusstest du es? Von der Vereinbarung... wusstest du es die ganze Zeit?“
Mamas Schweigen erfüllte den Raum. Sie stand in der Tür, ein Schatten gegen das Licht im Flur.
Ich wusste die Antwort bereits. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sie hatte gewusst, dass William mich verkaufen würde, und sie hatte nichts getan. Genauso wie all die Jahre.
„Wie lange?“ Meine Stimme brach.
„Jasmine, ich...“ Sie machte einen kleinen Schritt nach vorne. „Es tut mir so leid.“
Wut und Verzweiflung durchströmten mich gleichzeitig.
„Raus.“
Sie bewegte sich nicht.
„RAUS!“
Sie zuckte zusammen und floh. Die Tür schloss sich leise hinter ihr.
Ich brach auf mein Bett zusammen. Tränen strömten über mein Gesicht. Mein Gesicht schmerzte dort, wo Williams Finger gewesen waren.
Wie konnte es so weit kommen?
Gestern war ich noch Weltmeisterin im Turnen. Ich hatte von olympischem Gold geträumt. Mein ganzes Leben lag vor mir, voller Möglichkeiten.
Jetzt war ich Eigentum. Eine Ware. Etwas, das gegen Williams Schulden eingetauscht werden konnte. Die Ungerechtigkeit brannte in meiner Brust wie Feuer.
Ich wollte schreien. Dinge zerbrechen. Rennen, bis meine Beine nicht mehr konnten. Jemanden finden, irgendjemanden, der mir helfen könnte, diesem Albtraum zu entkommen.
Aber wohin sollte ich rennen? Wer würde mir glauben? Wer würde sich gegen die Familie Mitchell stellen?
Ich war nur ein achtzehnjähriges Mädchen. Gefangen. Machtlos. William hatte dieses Spiel perfekt gespielt. Er wusste genau, wie er mich kontrollieren konnte.
Ich musste alle anlügen. Ich sagte ihnen, ich würde aufs College gehen. Eine unglaubliche Gelegenheit in New York. Jedes Wort fühlte sich schwer in meinem Hals an.
„Ich verstehe nicht, Jasmine.“ Die Worte meiner Trainerin am Morgen hallten in meinem Kopf wider. Ihr Gesicht war vor Sorge zerfurcht. „Mit deinem Talent hast du eine echte Chance auf olympisches Gold.“
„Ich brauche Stabilität, Coach. Ein Turnerin zu sein... das ist nicht für immer.“
„Du könntest nach dem Gewinn weiterer Titel ins Coaching wechseln. Das würde die finanziellen Probleme lösen.“
Ich zwang ein bitteres Lachen hervor. „Könnte ich wirklich zusehen, wie andere Mädchen meinen Platz einnehmen?“ Eine egoistische Ausrede, aber besser als die Wahrheit.
Sie musterte mich einen langen Moment. Zweifel trübten ihre Augen. „Geht es wirklich darum?“
Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten. „Ich brauche einfach etwas Beständigeres als Medaillen.“
Sie glaubte mir nicht. Wie könnte sie auch? Die Lüge war zu dünn. Aber ich konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Ich konnte es niemandem sagen.
Ich fühlte mich erschöpft, und die Tränen kamen wieder hervor. Während ich weinte, verlor ich das Bewusstsein.
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus dem Schlaf. Ohne darauf zu warten, dass ich sie öffnete, kam jemand herein – es war Mama.
„Alles gepackt?“ Ihre Stimme war leise, schwer von Schuld.
Ich schüttelte den Kopf.
Sie überquerte den Raum und umarmte mich. „Es tut mir leid, Liebling. Es tut mir so leid.“
Ich sah sie genau an. Wirklich an. Die Frau vor mir war ein Schatten ihrer selbst. Jahre des Missbrauchs hatten sie ausgehöhlt.
Sie hatte zwei tödliche Fehler gemacht. William mit achtzehn zu vertrauen – meinem jetzigen Alter. Und William zu heiraten. Sie hätte nach dem ersten Schlag gehen sollen.
Aber jetzt war es zu spät. William hatte etwas in ihr zerbrochen.
An manchen Tagen schien sie kaum anwesend zu sein. Nur ein Schatten, der durch unser Haus schwebte. Der Anblick von ihr ließ mein Herz schmerzen. Würde das auch meine Zukunft sein?
Wir packten schweigend. Die Anforderungen der Familie Mitchell lagen auf meinem Schreibtisch:
Dresscode: Nur ordentliche Kleidung.
Reinheitsanforderung: Medizinische Untersuchung obligatorisch.
Aussehen: Nur natürlich.
Verhalten: Muss die Etikette der gehobenen Gesellschaft lernen.
Warnung: Schwere Konsequenzen bei Fehlverhalten.
Was für ein Mann kauft ein junges Mädchen? Was für eine Familie behandelt Menschen wie Eigentum?
Würde er mich als Person sehen? Oder nur als ein weiteres Besitztum? Ein Schmuckstück für seinen wohlhabenden Lebensstil?
Was würde er von mir wollen?
Der Gedanke an seine Berührung ließ meine Haut kribbeln. Ich unterdrückte die aufsteigende Panik. Ich musste stark bleiben. Musste klar denken.
Ich musste überleben. Irgendwie einen Weg finden, mich zu schützen.
Mama half mir, meine Trikots zu falten. Meine Trainingskleidung. Alle Stücke meines alten Lebens.
Ich verstaute meine Schätze. Das Mannschaftsfoto. Das Bild von Thomas. Die Halskette von meinen Teamkollegen.
Der silberne Anhänger fing das Licht ein. Tränen trübten erneut meine Sicht.
Der Alarm kam zu früh.
Ich zog mich sorgfältig an. Bescheidener blauer Pullover. Schwarze Hose.
Mein Zimmer sah im Morgenlicht seltsam aus. Wettbewerbsfotos bedeckten die Wände. Medaillen hingen in ordentlichen Reihen. Das Fenster zeigte immer noch Thomas' Fingerabdrücke von unseren Nächten, in denen wir Meteore beobachteten.
William fuhr schweigend, während Mama meine Hand hielt. Dreißig Minuten bis Logan International.
„Benimm dich.“ Sein einziges Abschiedswort trug eine klare Drohung.
Mama umarmte mich fest. „Ruf an, wenn du kannst“, flüsterte sie.
Das Terminal erstreckte sich vor mir. Meine Beine fühlten sich bei jedem Schritt wie Blei an.
Die Zeit verging. Dann hob das Flugzeug ab.
Im Flugzeug drückte ich meine Stirn gegen das kalte Fenster und sah zu, wie Boston unter den Wolken verschwand. Meine Tränen trockneten schließlich und wurden durch eine hohle Leere ersetzt. Erschöpfung überkam mich, und ich driftete in einen unruhigen Schlaf.
Ich träumte davon, von den unebenen Stangen zu fallen, durch die leere Luft zu wirbeln, ohne Matte darunter, die mich auffangen könnte.
Ich blinzelte wach, als das Flugzeug in JFK landete. Die Leute standen bereits und holten ihre Taschen aus den oberen Fächern. Ich folgte der Menge in die Ankunftshalle, wo ein Mann im schwarzen Anzug ein Schild mit der Aufschrift „MITCHELL“ in fetten Buchstaben hielt.
Mein Herz raste, als ich auf ihn zuging. „Ich... ich bin Jasmine Hamilton.“
Er nickte einmal, nahm meinen Koffer wortlos und führte mich zu einem eleganten schwarzen Auto, das draußen wartete. Ich glitt auf den Rücksitz und klammerte meinen Rucksack wie ein Schutzschild an meine Brust.
Das Auto schlängelte sich durch die Stadt, Gebäude türmten sich über uns auf. Wir überquerten eine Brücke und fuhren weiter nach Norden. Herrenhäuser begannen zu erscheinen, zurückgesetzt von der Straße hinter gepflegten Rasenflächen und eisernen Toren.
Schließlich bogen wir in eine lange Auffahrt ein, näherten uns einem massiven Eisentor, das sich automatisch öffnete, als wir uns näherten. Dahinter erstreckten sich perfekt gepflegte Grundstücke. Am Ende der Auffahrt stand ein Haus, das eher wie ein kleines Schloss aussah, aus Stein und Säulen und imposanten Fenstern.
Das Auto hielt am Vordereingang. Als der Fahrer meine Tür öffnete, trat eine Frau aus dem Haus. Sie war um die fünfzig, mit perfekt gestylten blonden Locken und hellblauen Kontaktlinsen. Ihr Gesicht zeigte Anzeichen von kosmetischen Eingriffen, aber ihr Lächeln wirkte sanft.
„Willkommen im Haus der Mitchells, Jasmine.“ Ihre Stimme war warm. „Ich hoffe, deine Reise war nicht zu anstrengend. Ich bin Daisy Mitchell, die Mutter deines zukünftigen Ehemanns.“
Ich griff fester nach dem Griff meines Koffers, plötzlich bewusst, dass ich alles Vertraute hinter mir ließ – Zuhause, Träume, Freiheit. Das Leben, das ich gekannt hatte, war vorbei.
Ich zwang mich, meinen Rücken zu strecken und Daisy direkt in die Augen zu schauen.